»Ach, Mutti, ich werde schon aufpassen, ich freu’ mich doch so furchtbar toll auf die Fahrt.«
»Dann nimm dich gut zusammen, Bärbel. Heute ist Dienstag, ich verlange also sehr wenig von dir.«
Bärbel machte einen Luftsprung. Auf die Ausfahrt im Auto freute sich das Kind schon lange. Nun war endlich der kommende Sonntag in Aussicht genommen worden, und Goldköpfchen konnte diesen Tag kaum erwarten.
Am anderen Morgen mußte es natürlich in der Schule sofort erzählen, daß am Sonntag eine Fahrt nach der Ruine vorgesehen sei. Fräulein Fiebiger verwies dem kleinen Plappermäulchen mehrmals die sprudelnde Lebhaftigkeit. Bärbel saß dann wohl für Augenblicke still, aber die Ausfahrt spukte immer wieder im Köpfchen herum, daß das Kind Mühe hatte, den Worten der Lehrerin zu folgen.
Ganz besonders schlimm war es in der Rechenstunde. Heute wurden die Bruchrechnungen durchgenommen, und Bärbel seufzte schwer. Besonders dabei mußte man furchtbar aufpassen, und das wurde ihr sauer.
»Nun, Bärbel?«
Die Kleine fuhr erschreckt zusammen. Sie hatte soeben daran gedacht, daß sie furchtbar gern vorn beim Chauffeur sitzen wollte, um die Uhr zu beobachten. Onkel Senftleben hatte ihr erzählt, daß man mit dem Auto siebzig und mehr Kilometer in der Stunde fahren könne, und daß die Geschwindigkeit auf dieser Uhr angezeigt werde.
»Wieviel macht es, Bärbel?«
Es bemächtigte sich des Kindes grenzenlose Verzweiflung. »Siebzig«, sagte es kleinlaut, wohl wissend, daß diese Antwort falsch sein mußte, denn Goldköpfchen kannte die Frage nicht.
»Du hast ja schon wieder nicht aufgepaßt, Bärbel. Wenn ich dir 66 Äpfel gebe, und dein Bruder will zwei Drittel davon haben, wieviel bekommt er?«
»Er bekommt zuerst Bauchweh!« schrie Georg Schenk dazwischen.
»Ruhe!« gebot Fräulein Fiebiger. »Bärbel, antworte!«
Bärbel machte das liebenswürdigste Gesicht, über das sie verfügte. »Fräulein, das wird etwas viel für den Bruder, er ist noch klein, und dann wird er krank, wenn er zuviel ißt.«
»Er soll die Äpfel auch nicht essen. Du sollst mir Bescheid geben auf meine Frage.«
»Ich würde ihn verhauen«, rief Georg dazwischen, »wenn er zwei Drittel haben will, und ich behalte nur ein Drittel. Solch kleener Kerl braucht noch nicht so viel.«
»Georg, du gehst sofort vorn an die Tafel und schreibst den Satz: ich soll nicht vorlaut sein.«
Die Rechenstunde ging weiter, Georg mußte den Satz fünfmal niederschreiben. Da Bärbel wieder nicht aufpaßte, drohte die Lehrerin, daß auch sie an die Tafel geschickt werde. Es geschah auch schon nach kurzer Zeit.
»Du schreibst: ich soll in der Stunde aufpassen.«
»Der Georg hat doch die ganze Tafel vollgemacht.«
Fräulein Fiebiger drehte die Tafel auf die andere Seite und gebot dem Kinde, zu schreiben.
Da stand nun der Satz während der ganzen Stunde mahnend an der Tafel, und jedesmal, wenn Goldköpfchen aufschaute, las es die selbstgeschriebenen Worte; es bemühte sich, seine Gedanken zu sammeln.
Endlich war die schreckliche Stunde vorüber.
»So, Bärbel, nun darfst du den Satz an der Tafel wieder fortwischen.«
Mit Begeisterung wischte die Kleine mit dem nassen Schwamm auf der Tafel herum.
»Fräulein?«
»Was willst du, Bärbel? – Hast du den Satz ausgelöscht?«
»Ja, – darf ich nun auch den hinteren vom Georg abwischen?«
»Ja.«
Georg schrie vor Lachen. Fräulein Fiebiger verwies ihm das Lachen; aber er hörte nicht auf.
»Fräulein, Fräulein«, rief er, »haben Sie gehört, was die Bärbel gesagt hat?«
Die Lehrerin errötete leicht, brach das Gespräch ab und gebot Ruhe.
In der nächsten Stunde aber erfüllte sich Bärbels Geschick. Fräulein Fiebiger hatte ohnehin heute schon ein scharfes Auge auf die kleine Zerstreute. Und da Bärbel immer wieder falsche Antworten gab, wurde die Lehrerin schließlich ernstlich böse.
»Ihr hattet zur heutigen Stunde auf, die erste Strophe zu lernen von dem Gedicht vom braven Mann. Bärbel, beginne.«
»Vom braven – Mann. – Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann.«
Wieherndes Gelächter in der Klasse.
»Das sagt mein Vater auch«, rief Hanna.
»So – Bärbel, – du bleibst nach Schulschluß hier und schreibst dreimal die erste Strophe des Gedichtes nieder.«
Bärbel wurde blaß. Die Worte fielen zentnerschwer auf das Kinderherz. Sie hörte in Gedanken die Worte der Mutter, sah die Eltern am kommenden Sonntag nach der Ruine fahren, man ließ sie daheim. Das stand für Bärbel felsenfest, daß sich die Mutter weder durch Bitten noch durch Versprechungen überreden ließ, sie zu der Ausfahrt mitzunehmen.
Die Tränen traten ihr in die Augen. »Das Lied vom braven Mann«, rief sie ängstlich, und hilfesuchend schaute sie sich um.
»Hoch klingt«, flüsterte Hanna ihr zu.
»Hoch klingt …« Bärbel war viel zu erregt, um die Verse zu wissen. Außerdem hatte sie sie sehr schlecht gelernt.
»Hoch das Bein, das Vaterland soll leben!« flüsterte Georg.
Die Lehrerin hörte den Zuruf. »Wenn du noch ein einziges Wort vorsagst, Georg, und wenn du weiter solch dummes Zeug redest, lasse ich dich auch nachsitzen.«
»Ich hab’ nichts gesagt.«
»Willst du noch lügen, Georg, ich habe deutlich gehört, daß du Bärbel zu verwirren suchtest.«
Georg lachte verstohlen in sich hinein. Fräulein Fiebiger wartete noch ein Weilchen; da aber Bärbel den Anfang nicht wußte, blieb es bei der diktierten Strafe.
Schließlich kam es dahin, daß auch Georg, der die Strophe ebenfalls nicht gelernt hatte, zum Nachbleiben verurteilt wurde; und während der Knabe diese Strafe gelassen entgegennahm, saß Bärbel verstört auf dem Platze und dachte an nichts anderes als an die verlorene Freude.
Um zwölf Uhr verließen die Kinder die Schule, Bärbel und Georg mußten zurückbleiben. Der Knabe schmierte aus dem Buch die erste Strophe ab, Bärbel hatte das Gesichtchen in die Arme gedrückt und weinte.
»Was heulst du denn, – schreib doch lieber! Ich bin bald fertig.«
»Ich darf am Sonntag nicht mitfahren«, klang es schluchzend zurück.
»Ach was, deine Eltern nehmen dich ja doch mit.«
»Nein, – ich darf bestimmt nicht mit. – Die Mutti hat gesagt, wenn ich noch einmal nachsitzen muß, darf ich nicht mit.«
»Sag’s doch nicht!«
Bärbel fuhr auf und schaute Georg an, als habe er etwas Unerhörtes ausgesprochen.
»Na, du bist schön dumm, wenn du alles sagst, – meine Mutter weiß nie, wenn ich nachbleiben muß.«
»Wenn du aber so spät heimkommst?«
»Dann bin ich eben mit einem Freunde ein Stück mitgelaufen, oder ich habe für die Lehrerin etwas besorgt. – Man muß eben ’ne Ausrede finden!«
»Du belügst deine Mutti?«
»Das ist keine richtige Lüge, sie ärgert sich, wenn ich nachbleiben muß, und den Ärger mache ich ihr nicht.«
Bärbel starrte sinnend vor sich hin. Es wollte der Kleinen nicht in den Sinn, daß man seinen Eltern etwas Unwahres sagen dürfe. Die Mutti würde es auch sofort merken, wenn sie so spät aus der Schule kam.
»Ich würde es nicht sagen«, fuhr Georg fort, »es findet sich schon eine Ausrede. Dann darfst du mit nach der Ruine fahren. Es schadet auch gar nichts, wenn man mal schwindelt.«
Bärbel schluckte wieder an den Tränen. Die Ausfahrt, die sie nicht mitmachen durfte, bereitete ihr den größten Kummer. Wenn es möglich gewesen wäre, daß die Eltern von dem heutigen Nachsitzen nichts erfuhren, durfte sie am Sonntag mit zur Ruine fahren. Aber die Mutti paßte genau auf.
Plötzlich fing Bärbel an, in größter Eile die Strophe niederzuschreiben. Es wurde ein Geschmiere, daß die einzelnen Buchstaben kaum zu erkennen waren, und noch ehe Georg die Strophe zum zweiten Male niedergeschrieben hatte, war sie fertig. Bärbel nahm das Heft, stürmte damit ins Nebenzimmer, in dem Fräulein Fiebiger saß und korrigierte.
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