»Aber beim Lernen brauchst du es nicht zu sein.«
»Ach, Vati, wir wollen es doch lieber bei dem lassen, was das Fräulein sagt.«
Lächelnd drohte der Apothekenbesitzer seinem Töchterchen mit dem Finger, er hoffte, daß Bärbel bald Gefallen am Schulunterricht finden werde. Bis jetzt war freilich nicht viel davon zu spüren.
»Wer ist denn die Faulste in deiner Klasse, Goldköpfchen?«
»Ich weiß es nicht, Vati.«
»Gib mir einmal ganz ehrlich Antwort, mein Kind. – Wenn alle anderen fleißig schreiben, wer sitzt dann da und guckt in die Luft und tut nichts?«
»Unser Fräulein«, erwiderte das Kind strahlend.
»Das Fräulein hat aufzupassen. Ich glaube viel eher, daß du der kleine Faulpelz bist, aber ich hoffe, daß du dich bald besserst und deinen Eltern Freude machen wirst. Du hast uns doch versprochen, ein braves Mädchen zu werden?«
»Jawohl, Vati – aber wenn eben immer was dazwischenkommt, kann ich doch nichts dafür.«
»Hast du heute schon Schularbeiten gemacht, Kind?«
»Ja, Vati.«
Damit ließ Herr Wagner sein Töchterchen gehen, in der Hoffnung, daß aus dem bisher recht trägen, kleinen Mädchen doch noch ein fleißiges Kind werden würde.
Frau Wagner sah das Verhalten ihrer Tochter schon mit mehr Sorge an. Es gefiel ihr gar nicht, daß Bärbel auch nicht den geringsten Lerneifer entwickelte. Goldköpfchen hatte schon in den ersten Tagen seine Schulhefte den Zwillingen zum Spielen gegeben und war mit glänzenden Augen zur Mutter gekommen, als die kleinen Brüder die Hefte zum Teil zerrissen, zum Teil bekritzelt hatten.
»Nun kann ich nicht mehr in die Schule gehen, Mutti!«
Es hatte einen strengen Verweis gegeben, man hatte der Kleinen verboten, die Brüderchen mit den Schulsachen spielen zu lassen. Da war es für Bärbel abermals eine große Freude gewesen, als die Feder, mit der es daheim üben sollte, zerbrach. Beglückt hatte das Kind in der Schule berichtet, daß es nicht habe weiterschreiben können, weil die Feder entzweigegangen sei. Man hatte Goldköpfchen zu seinem großen Leidwesen eine neue Feder gegeben und ihm dann ernsthaft verwiesen, die Federn weiter so rasch zu zerbrechen, da es sonst Strafe geben werde.
Alle diese sanften Tadel der Lehrerin trugen natürlich nicht dazu bei, Goldköpfchens Liebe zur Schule zu erhöhen. An jedem Morgen gab es daheim denselben kleinen Kampf. Goldköpfchen suchte nach Ausreden, um der Schule fernbleiben zu können.
Auch am heutigen Morgen hatte Frau Wagner wieder die größte Mühe, Bärbel zum Aufstehen zu bewegen.
»Jetzt stehst du auf, Kind, mache mich nicht böse. Wer wird denn so faul sein!«
»Ich möcht’ noch ein bißchen liegenbleiben.«
»Du stehst jetzt sofort auf. – Schäme dich, Bärbel!«
»Mutti? – Kann ich mich nicht lieber im Bett schämen und noch liegenbleiben?«
»Willst du mich ernstlich erzürnen, Bärbel?«
»Mutti? – Ich glaube, ich kann heute nicht in die Schule gehen, ich fühle mich nicht wohl.«
»Wo denn, Kind?«
»In der Schule, Mutti, dort fühle ich mich gar nicht wohl.«
»Ich rufe sofort den Vater, wenn du nicht sofort das Bett verläßt; da gibt es Schläge.«
Bärbel sah ein, daß es die Mutter nicht noch mehr erzürnen durfte, und erhob sich seufzend. Wenn nur erst die Schule wieder aus wäre, es war gar zu schrecklich! Es wäre viel netter, wenn sie ein wenig mit Hektor, ihrem geliebten Hunde, gespielt hätte oder mit den Zwillingen.
»Mutti, – der Hektor braucht wohl in keine Schule zu gehen?«
»Nein.«
»Lernt er gar nichts?«
»Beim Hektor hilft der Instinkt nach.«
»Hilft bei mir auch der Stinkt nach?«
»Nein, Menschen müssen lernen.«
»Darum stinkt wohl der Hektor, weil ihm der Stinkt hilft?«
»Jetzt laß das Spielen mit dem Hunde sein, Kind, und mache dich fertig.«
»Mutti, ich habe aber den Hektor viel lieber als das Fräulein.«
»Ich will nun nichts mehr hören, Bärbel. – Hast du die Hände sauber gewaschen?«
Das Kind nickte. »Guck nur das Handtuch an, da siehst du’s.«
»Kind, Kind, du bist doch ein rechter Schmutzfink. Jetzt eile, hole deine Sachen und mach’, daß du zur Schule kommst!«
Eine Viertelstunde später saß Goldköpfchen wieder in der Schulbank und schaute gelangweilt drein. Die Geschichte von Adam und Eva, die ihnen Fräulein Fiebiger erzählte, hatte es schon von der Mutti gehört. Bärbel hielt es daher nicht für notwendig, besonders aufzupassen. Sie dachte an Hektor, mit dem es sich so prächtig spielen ließ.
Es vergingen keine fünf Minuten, da wurde Bärbel plötzlich unruhig. Zögernd kam der kleine Finger in die Höhe.
»Was willst du, Kind?«
»Fräulein, – ich habe einen Floh, vom Hektor.«
»Das ist ein Irrtum, Bärbel. – Also weiter. – Wer waren die ersten Menschen?«
»Adam und Eva«, sagte Maria.
»Und wer war Kain und Abel?«
Tiefes Schweigen.
»So überlegt doch! – Wenn Adam und Eva die beiden ersten Menschen waren, wer waren Kain und Abel? – Bärbel, sprich!«
»Die beiden zweiten Menschen.«
»Ihr habt alle wieder nicht aufgepaßt. – Woran denkt ihr denn?«
Wieder kam Bärbels Fingerchen hoch. »Fräulein, mich beißt schon wieder ein Irrtum.«
»Die Stunde ist bald vorüber, Kind. Das kommt davon, wenn du daheim, ehe du zur Schule kommst, schon mit dem Hunde spielst. Im übrigen ist ein Hund ein sehr treues und gutes Tier, das einen außerordentlich feinen Geruch hat.«
»Nein«, rief Bärbel stürmisch, »fein riecht er nicht, unser Hektor stinkt, – ich habe ihn geriecht!«
Es war ein leiser Seufzer, der über die Lippen der Lehrerin kam. Mit Bärbel würde man wahrscheinlich in Zukunft noch einen recht schweren Stand haben. Das kleine, träge Mädchen war außerordentlich scharfdenkend und genau. Bärbel war nicht so leicht mit Redensarten abzuspeisen, sie ging den Sachen auf den Grund, und darum wollte sich Fräulein Fiebiger besonders vorsehen, um sich keine Blöße zu geben.
Im Laufe der Unterrichtsstunde wurden dann noch anschließend erneut die Tugenden des Fleißes und der Bescheidenheit besprochen, wobei Fräulein Fiebiger gerade dann, wenn es sich um Fleiß handelt, Bärbel besonders scharf anschaute. Aber das Kind hatte inzwischen entdeckt, daß sich auf der hölzernen Tischplatte bequem mit dem Buntstift allerlei Striche zeichnen ließen, und war höchst erstaunt, als ihr dieses interessante Spiel schon im nächsten Augenblick untersagt wurde.
»Fräulein«, fragte Georg, »lernt der besser, der große Ohren hat?«
»Nein, Georg.«
»Aber er kann doch viel mehr hören.«
»Auf die Ohrmuschel kommt es nicht an, Georg.« Die Lehrerin begann von den fünf Sinnen zu sprechen, daß der Schöpfer es so eingerichtet habe, daß ein Mensch, bei dem das Augenlicht fehle, ein um so schärferes Gehör habe.
»Bei uns wohnt ein Mann, der hat keine Nase«, sagte Hanna, »kann der nun besser sehen?«
»Mitunter sind die Menschen, die keinen Geruch haben, im Gehör besser ausgebildet, das hat der Schöpfer so eingerichtet. Weiß einer von euch vielleicht noch ein Beispiel?«
Erst blieb alles mäuschenstill, dann meldete sich die kleine Maria. »Ich weiß etwas«, flüsterte sie.
»So erzähle, Maria.«
»Zu meinem Vater kommt ein Mann, der hat das eine Bein kurz, dafür hat ihm der liebe Gott das andere Bein länger gemacht.«
Es war wieder sehr schwer für die Lehrerin, das kindliche Verständnis für diese Dinge zu wecken. Durch zahlreiche Fragen der Kinder wurde sie noch weidlich in die Enge getrieben, und so atmete sie auf, als die rettende Glocke ertönte.
In der darauffolgenden Schreibstunde bekam Bärbel zum ersten Male eine nachdrückliche Strafe. Da sie die vorgeschriebenen Aufgaben nicht gemacht hatte, wurde die Kleine in die Ecke gestellt.
Читать дальше