Und da wusste ich plötzlich, was ich brauchte. Nur, dass ich das hier bei Nicci nicht finden würde.
Ich räusperte mich. "Du... Nicci, entschuldige aber ich brauche noch ein wenig Ablenkung. Hab ich eine Chance, heute Nacht irgendwann hier wieder reinzukommen?"
Sie sah mich verdutzt blinzelnd an. "Was, du willst ausgehen? Jetzt noch? Es ist nach zwei!"
"Und es ist Samstag", fügte ich schulterzuckend hinzu.
Sie schüttelte fassungslos den Kopf, lächelte aber sogleich wieder. "Wie du möchtest. Ich gebe dir einen Ersatzschlüssel, dann kannst du jederzeit wieder herkommen. Aber pass um Himmels Willen auf dich auf, um diese Uhrzeit... Und du bist nicht einmal mit dem Auto unterwegs!"
Ich unterdrückte einen Kommentar, der das Vorhaben, mich gründlich zu besaufen, verraten hätte. "Ich habe genug Geld für ein Taxi, keine Sorge. Sieh du lieber zu, dass du ein bisschen Schlaf findest. Das Baby quängelt bestimmt schon."
Ganz automatisch fuhren Niccis Hände wieder zu ihrem Bauch und auf ihrem Gesicht machte sich so etwas wie Schuldbewusstsein breit. "Du hast recht."
Ich erhob mich, spülte meine Tasse aus (wovon mich Nicci natürlich abhalten wollte, um es selbst zu tun) und sagte abschließend: "Falls ich vor morgen früh nicht zurückkomme, tu mir den Gefallen und ruf nicht die Polizei. Hier, ich gebe dir meine Nummer..." Ich kramte einen abgerissenen Zettel aus meiner Hosentasche, ließ mir von ihr einen Stift geben und notierte meine Handynummer. "Sagen wir, wenn ich morgen um eins noch nicht wieder da bin, kannst du mich anrufen. Vorher geh bitte davon aus, dass alles in Ordnung ist."
Nicci war etwas perplex, dass ich ihrer ausgeprägten Sorge um alles und jeden so vorbeugend entgegenkam. Wahrscheinlich war sie erstaunt, dass ich mich so gut an diesen charakteristischen Wesenszug von ihr erinnern konnte. Aber zu meiner Überraschung erwiderte sie nichts, sondern steckte nur nickend den Zettel ein.
Nur zehn Minuten später befand ich mich, kräftig in die Pedale tretend, auf dem Weg zur nächstbesten Diskothek. Ich war mir nicht ganz sicher, was ich mir eigentlich dabei dachte, aber ich vertraute einfach mal meiner inneren Stimme. Die sagte mir im Moment, dass ich mich abreagieren musste. Und wo ging das wohl besser als bei ohrenbetäubender Musik, berauschten Menschenmassen und jeder Menge Alkohol?
Ich erinnerte mich an eine Diskothek am Stadtrand, in der Arik und ich unseren Einzug in dieser Gegend gefeiert hatten. Der Abend damals war nicht besonders spektakulär gewesen. Arik hatte sich so betrunken, dass ich ihn mehr nach Hause tragen als begleiten und zu guter letzt meine Schuhe von seinem Mageninhalt befreien musste. Ich verscheuchte die Erinnerung. Ob mit unangenehmer Vergangenheit verknüpft oder nicht, ich kannte nun einmal keine andere Disko hier.
Als ich endlich ankam, war es halb drei und der Parkplatz vor dem großen Hallengebäude war schon halb geleert. Der Erfahrung nach waren die meisten Teenager um diese Uhrzeit schon verschwunden, weil sie betrunken oder müde waren oder sie den Zorn der Eltern nicht provozieren wollten. Es war die Zeit der hartgesottenen Säufer, der hyperaktiven Partylöwen, der Alleinstehenden mit dem Wunsch nach einem One-Night-Stand und der Selbstmordgefährdeten.
Ich stellte mein Fahrrad in einer der hintersten Ecke des Parkplatzes ab und lehnte es halb ins Gebüsch, damit es etwas versteckt lag. Insgeheim plante ich bereits, mich der Kategorie der hartgesottenen Säufer anzuschließen und mit einem Taxi nach Hause zu fahren. Mein Fahrrad musste ja nicht die ganze Nacht für jeden betrunkenen Raufbold in unmittelbarer Reichweite sein.
Ich strich Rock und Oberteil glatt, während ich mich dem Eingang näherte. Wahrscheinlich bot ich einen erbärmlichen Anblick, nach allem, was in den letzten Stunden geschehen war, aber es war mir gleichgültig. Ich war ja nicht hier, um einen Schönheitswettbewerb zu bestreiten. Der Türsteher maß mich mit einem Blick, der mir klarmachte, dass ich einen solchen auch mit Sicherheit nicht gewonnen hätte. Zum Glück ließ er mich trotzdem rein.
Am Eingang war niemand mehr, der Eintritt verlangte, nur ein zweiter gelangweilter Türsteher, der kurz davor schien, einfach im Stehen einzuschlafen. Ein erster Blick auf die Tanzfläche verriet, dass noch erstaunlich gute Stimmung herrschte. Der zweitklassige Hip Hop ließ mich die Nase rümpfen, aber man konnte schließlich nicht alles haben.
Ich steuerte die Bar an und nahm auf dem erstbesten freien Hocker platz. Die Blicke derjeniger, die bereits dort saßen und mit ihren Gläsern in der Hand auf die Tanzfläche gafften (es waren selbstverständlich fast nur Männer), ruhten einen Augenblick lang auf mir, als ich mir einen Caipirinha bestellte. Die leicht bekleideten Frauen im Blitzlicht waren aber schon bald wieder viel interessanter. Ich entspannte mich geradezu absurd schnell. Gott war es lange her, dass ich allein ausgegangen war! Oder nein, ich musste das klarstellen- Gott war es lange her, dass ich überhaupt das letzte Mal ausgegangen war! Ich hatte fast vergessen, wie schnell die entrückende und aufputschende Wirkung von Diskolicht und überlauter Musik einsetzte. Und dass Caipirinha so gut schmeckte, hatte ich auch fast vergessen. Ich schlürfte vorsichtig an dem kleinen schwarzen Cocktailstrohhalm und nahm meine Umgebung in genaueren Augenschein.
Das vorherrschende Alter der Anwesenden schien zwischen zwanzig und dreißig zu liegen, der durchschnittliche Promillegehalt mindestens bei 1,5. Bevor mir richtig klar wurde, was ich tat, sah ich mich schon nach attraktiven Männergesichtern um. Alles und jeder, der auch nur im Geringsten eine Ähnlichkeit mit Arik aufwies – ob es nun Haarfarbe, Größe oder Körperbau war – schied im Vornherein bei dieser Selektion aus. Ich musste grinsen, als ich zu dem gleichen Schluss kam, zu dem ich bei solcherlei Auswahlverfahren schon immer gekommen war: Dass die Gutaussehenden immer in Begleitung von ebenso gut aussehenden Damen waren.
Ungefähr eine halbe Stunde saß ich einfach sinnlos herum und nippte an den Resten meines Cocktails. Dann geschah etwas, mit dem ich nun wirklich nicht gerechnet hatte: Ich wurde angesprochen.
„Lust auf einen Orgasmus?“
Dieser Satz löste eine nicht zu verachtende Kettenreaktion aus. Ich drehte mich hochgradig geschockt zu meinem Gegenüber um. Dessen todernster Gesichtsausdruck löste in mir einen so starken Lachreiz aus, dass ich mich an einem Limettenstück meines Caipirinhas verschluckte. Daraufhin musste der Verursacher all des Unglücks natürlich lachen und ich lief puterrot an. Die Limette brannte so fürchterlich in meiner Luftröhre, dass mir die Tränen kamen und der Husten mir jegliche Chancen zum Luftholen nahm. Hinter dem Tränenschleier und dem Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren nahm ich nur halbwegs wahr, wie mein Peiniger eilig ein Glas Wasser für mich orderte. Er drückte es mir in die Hand und lachte dabei immer noch (was ich nicht besonders hilfreich fand). Aber zumindest war er so kollegial, mit seinem Spott zu warten, bis ich das Glas geleert und mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte.
„Das geht wohl unter die Top Ten der wirkungsvollsten Anmachsprüche aller Zeiten ein.“ Das Grinsen auf dem (wie ich mir beschämt eingestehen musste) ziemlich ansehnlichen Gesicht reichte ungefähr von einem Ohr zum Anderen. Und die Worte waren gar nicht so spöttisch gewesen, wie ich befürchtet hatte. Alle Aggressionen, die sich während meines Hustenanfalls aufgebaut hatten, verpufften. Ich war nur zu einem reichlich dämlichen „Danke für das Wasser“ fähig.
„Ich kann ja nicht zusehen, wie so eine reizende junge Dame erstickt… meinetwegen.“ Obwohl sein Grinsen immer noch ziemlich dreist war, konnte ich in seiner Stimme nicht den geringsten Hauch von Gehässigkeit heraushören. „Ich wollte Ihnen ja eigentlich nur einen Drink anbieten.“
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