"Für nichts. Einfach nur Dary, mit Ypsilon. Fragen Sie mich nicht, was sich meine Eltern dabei gedacht haben… die waren wahrscheinlich im Vollrausch."
Darleen lachte, als könne sie sich das sehr gut vorstellen. „Ich weiß gar nicht, was du hast. Dary ist doch ein guter Name. Klingt fast so ein wenig indisch, meinst du nicht?“
Dary verzog das Gesicht. Indisch war ihr neu… aber viel eher hatte sie damit zu kämpfen, dass die Leute dachten, ihr Name wäre englisch, und sie mit solchen verbalen Kotz-Stückchen wie Dahhrrrie mit englischem gerolltem R oder Dährie betitelten. Bei letzterem musste sie sich immer einen schwabbeligen Amerikaner vorstellen, der sie mit dem Mund voller Burger im Fastfoodrestaurant ansprach.
Darleen lachte, als könnte sie Darys Gedanken lesen. „Keine Sorge. Meine Eltern haben mich Dorothea genannt, aber als ich mit dem Job hier angefangen habe, wurde ich von meinen Kollegen glücklicherweise umbenannt. Nur Männer, weißt du…“ Und wieder lachte sie, diesmal schallend, unangenehm laut. Dary war sich sicher, dass die Frau mit diesem Lachen einen Berg zum Einsturz bringen konnte, wenn sie wollte.
Inzwischen hatte sich der LKW in Bewegung gesetzt und steuerte langsam auf die Straße zu.
"Du kannst mich duzen, Liebes."
"Danke. Es ist wirklich nett, dass du mich mitnimmst."
"Du wiederholst dich. Außerdem, auf Dauer ist es ziemlich langweilig, Selbstgespräche zu führen." Mit der Linken fischte Darleen eine neongrüne Thermoskanne hervor, die sie Dary reichte. "Kaffee?"
„Danke, aber nein. Ich würde gern etwas schlafen, wenn du nichts dagegen hast."
"Natürlich nicht. Hinter deinem Sitz findest du ein Kissen. Wie lange bist du denn schon unterwegs?"
"Seit heute Nachmittag etwa."
"Dann gönn dir ein bisschen Schlaf. In zwei bis drei Stunden mache ich wieder kurz Rast, ich wecke dich, wenn es soweit ist."
"Okay."
Dankbar und plötzlich todmüde klaubte sich Dary das Kissen hinter dem Sitz hervor und machte es sich bequem. Sie war froh auf Grund einer ganzen Handvoll Dinge. Allem voran war sie froh über die Tatsache, dass sie es überhaupt durchgezogen hatte. Sie hatte es getan. Das allererste Mal in ihrem Leben hatte sie etwas völlig Verrücktes getan und das erfüllte sie mit einer Art von rebellischem Stolz. Dann war sie außerdem froh darüber, dass der Anhalter-Trick, den sie bisher nur aus Filmen kannte, wirklich funktionierte und sie jetzt nicht mehr zu Fuß gehen musste. Und zuletzt war sie froh darüber, neben Darleen zu sitzen. Natürlich konnte sie sich noch kein ausreichendes Bild über diesen Menschen machen, aber der erste Eindruck stimmte sie optimistisch. Schließlich wollte Dary keine Freundschaft fürs Leben schließen, sondern nur ein paar Kilometer mitgenommen werden.
Bisher stellte Darleen keine Fragen, zumindest keine, auf die sie eine Antwort erwartete. Darüber war Dary ganz besonders froh, denn wenn sie eines nicht hatte, dann waren das Antworten.
Die Nacht zog gänzlich farblos und trüb an ihnen vorbei, nur durchbrochen von den wenigen Lichtern der anderen Fahrzeuge, die hier auf der Landstraße unterwegs waren. Schon bald hatte sich Dary an den Zigarettenqualm und das konstante, von nichts Anderem unterbrochene Motorengeräusch in Darleens Führerhäuschen gewöhnt. Immer schwerer sank ihr Kopf in das Kissen. Ab und zu sah sie ihr Spiegelbild in der großen Scheibe: Ein müdes, von schwarzem, zerzaustem Haar umrahmtes Gesicht einer Siebzehnjährigen, die einfach mal entschlossen hatte, alles und jeden für unbestimmte Zeit hinter sich zu lassen.
Dary spürte, wie die Anstrengung des Tages in ihre Glieder kroch und ihre Lider wurden schwer. Das letzte, was sie in der Scheibe sah, bevor ihr die Augen zufielen, war das Gesicht einer zierlichen jungen Frau, die ihr totenbleich zulächelte, während ihr eine Träne aus Blut über die Wange rann.
Sie erwachte in dem Moment, in dem der Motor erstarb. Verwirrt und orientierungslos zuckte sie hoch und drohte für einen Augenblick sogar in Panik zu geraten, da sie die Gurte am Sitz zurückhielten; ein Gefühl, als versuche etwas, sie an der Flucht aus ihrem Alptraum zu hindern. Erst der Anblick von Darleen, die gerade ausstieg und sich wieder eine Zigarette ansteckte, brachte sie in die Wirklichkeit zurück.
"Ich geh Zigaretten kaufen", nuschelte Darleen.
Dary wollte etwas sagen, doch der Teil ihres Gehirns, das die Sprache steuerte, befand sich offenbar noch im Halbschlaf. So wischte sie sich stattdessen nur mit dem Handrücken über die Augen, um endgültig wach zu werden. Aber Darleen hatte ohnehin keine Reaktion erwartet. Sie hatte schon längst die Fahrertür wieder hinter sich zugeschlagen und war auf dem Weg zum Raststellenshop.
Dary brachte sich in eine aufrechte Position und streckte die Glieder. Ein unangenehm taubes Gefühl haftete an ihr und sie wusste, dass sie schlecht geträumt hatte, obwohl sie sich nicht bildlich daran erinnerte. Es war noch immer stockdunkel und ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass der Sonnenaufgang noch mindestens zwei Stunden entfernt war. Aber das machte nichts, schließlich hatte es Dary nicht eilig. Das war das Gute daran, etwas ohne Plan und Perspektive zu tun. Man konnte einfach kommen lassen, was kam.
Als Darleen zurückkam, hatte sie nicht nur eine Stange Zigaretten, sondern auch eine Tüte Chips und zwei Flaschen Cola unterm Arm. Dary kletterte hilfsbereit zum Fahrersitz hinüber, um ihr die Tür zu öffnen.
"Danke, Schätzchen", keuchte Darleen und kletterte zurück in den Truck. "Hier, etwas Proviant." Sie reichte ihre Ausbeute ihrem Fahrgast und lächelte gönnerhaft. "Ich dachte, das wäre vielleicht angemessen."
Dary lag etwas wie Das wäre doch nicht nötig gewesen auf der Zunge, allerdings gebot ihr das Magenknurren, das in diesem Moment erklang, still zu sein. Die Chipstüte war geöffnet und zur Hälfte geleert, noch bevor sie wieder auf die Straße aufgefahren waren.
"Wer ist eigentlich Rika?", fragte Darleen und langte zu Dary hinüber, um sich ebenfalls an den Chips gütig zu tun.
Etwas verfing sich in Darys Hals und sie fing unkontrolliert an zu husten. "Ähm, wieso...?", setzte sie an, doch die Chipskrümel in ihrer Luftröhre beließen es bei diesem Versuch.
"Entschuldige. Ich wollte nicht aufdringlich sein", beteuerte Darleen und machte eine zurückhaltende, besorgte Geste. "Ich frage nur, weil du im Schlaf ihren Namen gesagt hast."
Der Husten löste sich endlich, dafür schlug jetzt Darys Herz so schnell, dass sie kaum Luft bekam. Mehrere Sekunden lang sagte sie gar nichts. Zu viele Empfindungen pochten in ihr, als dass sie irgendeinen Gedanken in Worte hätte fassen können.
"Hey, es ist okay, wenn du nicht darüber reden willst", sagte Darleen daraufhin. Sie sah Dary nicht an, sondern blickte starr aus dem Fenster… sie ahnte also, dass sie ein heikles Thema angerissen hatte. "Es geht mich ja nichts an."
Da hatte sie recht. Dary war sich im Klaren darüber, dass sie unfair war, aber in diesem Augenblick lag ein eindeutig unfreundliches Ganz genau in ihren Gedanken. Es ging niemanden etwas an. Nicht einmal ein Zehntel der einhundert Menschen, die auf dem Friedhof gewesen waren, hatte es etwas angegangen. Sie waren trotzdem gekommen. Schaulustige, nichts weiter. Sie wandte den Blick zum Fenster, um die Wut und die aufkommenden Tränen vor Darleen zu verbergen.
"Ist alles in Ordnung mit dir?" Darleen klang ernsthaft besorgt. "Möchtest du, dass ich dich raus lasse?"
"Nein... nein, ist schon okay", winkte Dary ab und zwang sich zu einem Lächeln. "Es ist nur..."
"Schon klar." Darleen verwandelte sich von einer Sekunde auf die nächste wieder in die angenehme LKW-Fahrerin, die keine Antworten wollte. "Wir laufen doch alle vor irgendetwas davon. Das ist ganz allein deine Sache."
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