Es war ein beschämender Augenblick, als Nicci die Tür öffnete. Es schlug mir genau das gleiche, gönnerhaft gutmütige Lächeln entgegen, das ich schon damals verabscheut hatte. Sie schien sich überhaupt nicht verändert zu haben seit dem Tag, an dem ich sie das erste Mal gesehen hatte, und der war immerhin gut sieben Jahre her. Ihre natürlich gewellten, blonden Haare waren hochgesteckt und mehrere zause Strähnen fielen in ihr puppenhaftes Gesicht. Ihre Augen hatten ein übermütiges Strahlen, dem ich nicht einmal eine Sekunde standhalten konnte.
"Was machst du denn hier?" Niccis Tonfall nach hätte man glauben können, ich wäre ihre verschollene beste Freundin, auf deren Wiederkehr sie jahrelang gewartet hatte. Einige Momente lang standen wir uns schweigend gegenüber, dann schlug Nicci fast erschrocken die Hände vor den Mund. "Entschuldige bitte! Komm doch rein, komm rein!"
Ich ging betreten an ihr vorbei in das auch von innen grottenhässliche Treppenhaus. Nicci hatte es sehr eilig, die Tür hinter mir zu schließen und an mir vorbei zu huschen, um die Tür zu ihrer Wohnung im Erdgeschoss galant aufzuhalten, bis ich hindurchgetreten war.
Der Flur, in dem ich mich befand, strotzte vor bunten, modernen Gemälden. Die vorherrschenden Farben waren Pink und Violett. Aus einem Raum am Ende des Flures hörte ich eine tiefe, verschlafene Männerstimme: "Schatz, wer ist denn da?"
"Eine alte Bekannte, Liebling", rief Nicci zurück. "Schlaf ruhig weiter."
Es beruhigte mich, dass sie nicht das Wort Freundin benutzte. Dafür lächelte sie so engelhaft wie eh und je. "Entschuldige, dass ich dich nicht mit meinem Mann bekanntmache. Bis vor einer Viertelstunde saß er noch im Büro und hat Überstunden geschoben, stell dir das vor." Sie seufzte lachend und machte diese unglaublich tussihafte Geste, in der man die Augen verdreht und die rechte Hand auf die Brust legt. "Er ist so ein schrecklicher Workaholic."
Oh mein Gott, wo war ich hier nur gelandet?
Ich nuschelte irgendetwas Beschwichtigendes und ließ mich von Nicci in die Küche führen, wo sie- ohne mich zu fragen, ob ich einen wollte- zwei Tassen Kaffee einschenkte, den sie offenbar gerade gemacht hatte.
"Möchtest du eine Tasse Kaffee?"
Sie ließ mir nicht mal einen einzigen Triumph. "Ja, danke sehr. Aber bitte, mach dir keine Umstände..."
Ausreden ließ sie mich auch nicht. "Du meine Güte, hör bloß auf. Wir haben uns bestimmt Jahre nicht mehr gesehen, da wird wohl ein Kaffee drin sein. Wo wir beim Thema wären..." Sie bugsierte mich an den Esstisch, wo wir uns setzten. "Warum bist du so spät noch allein unterwegs? Ist irgendetwas passiert?"
Die Augenblicke, in denen ich nach Worten suchte, schienen Nicci schon zu reichen. Sie schlug die Hände vor den Mund, als hätte ich ihr gesagt, dass ich noch zwei Tage zu leben habe, und raunte: "Du bist schwanger!"
"Nein, bin ich nicht."
Sie lachte herzlich. "Sollte auch nur ein Scherz sein. Nein, im Ernst, was ist los?"
"Ich habe mich von Arik getrennt. Er ist fremdgegangen."
Ihr Gesicht wurde schlagartig wieder ernst. "Wann?"
"Getrennt habe ich mich gerade eben von ihm. Fremdgegangen ist er mir seit zwei Monaten."
Sie blinzelte, als könne sie es kaum glauben. "Du meinst, es ist aus zwischen euch? So richtig definitiv?"
Ich nickte.
Nicci lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. "Wie hat er reagiert?"
Ich schnaubte. "Na, wie Arik immer reagiert. Aggressiv und aufgeblasen."
"Ich habe immer geahnt, dass das mit euch keine große Zukunft hat", seufzte sie mitfühlend. "Erinnerst du dich an damals, als du ihn kennengelernt hast? Ich hatte schon damals das Gefühl, dass ihr zwei eure Beziehung auf irgendeiner falschen Basis aufbaut."
Wenn sie wüsste, wie sehr sie damit Recht hat.
Der Kaffeegeruch stieg verlockend in meine Nase und ich nahm einen vorsichtigen Schluck.
Als ich ihn kennengelernt habe.
Die Erinnerung an diese Zeit vor sieben Jahren war verschwommen und ich wusste auch, warum: Ich wollte mich nicht genau erinnern. Niccis Worte ließen schon genug Bilder in meinem Kopf aufblitzen, die ziemlich unangenehm waren. Also versuchte ich es mit einem Themenwechsel.
"Wann hast du geheiratet?" Ich nickte in Richtung ihres Eherings.
Nicci schmunzelte und begann augenblicklich, an ihrem Ringfinger herumzuspielen. "Vor fünf Monaten. David ist das Beste, was mir passieren konnte."
David. Der Name rief irgendetwas in mir hervor, aber ich war mir nicht sicher.
"David Aloys", half mir Nicci lachend auf die Sprünge. "Er war damals auch dabei, erinnerst du dich nicht?"
Damals . Ich presse die Lippen aufeinander. Mein Themenwechsel war also keine gute Idee gewesen. Jetzt erinnerte ich mich auch an David. Er war damals Ariks Schatten gewesen. Ein stumpfsinniger, grobschlächtiger Kerl. Wie das mit Nicci zusammenpassen sollte, war mir ein Rätsel.
"Und, bist du glücklich mit ihm?"
"Glücklich wäre untertrieben", kicherte Nicci. "Ich vergöttere ihn. Nur seinen Namen wollte ich nicht übernehmen, der war mir einfach zu hässlich."
Ich zwang mich zu einem Lächeln. Was tat ich eigentlich hier?
"Und ähm... was hast du jetzt vor?", fragte mich Nicci. "Ich meine, ihr habt doch zusammen gewohnt."
"Ich weiß es noch nicht. Vielleicht werde ich mir für ein paar Tage ein Zimmer nehmen. Oder ich fahre zu meinem Vater. Es sind Sommerferien. Bis die Schule wieder anfängt, fällt mir sicherlich etwas ein."
"Was, du bist tatsächlich Lehrerin geworden?", fragte Nicci erstaunt- und gab mir selbstverständlich gar keine Gelegenheit, etwas dazu zu sagen. "Gratuliere!"
Ich nahm es mit einem halbherzigen Lächeln an, anstatt ihr zu eröffnen, dass ich nicht einmal mit dem Lehramtsstudium angefangen hatte, sondern in der Schulzeit lediglich gegen einen Hungerlohn Hausaufgabenbetreuung betrieb. Dann sagte Nicci etwas völlig überraschendes: "Bleib doch so lange hier."
"Was?"
"Na hier, bei uns. Das ist wirklich kein Problem!"
Mir verkrampfte sich der Magen. "Nein, das kann ich wirklich nicht..."
"Ich bestehe darauf! Du kannst mir ja Miete zahlen, wenn du unbedingt willst." Sie grinste über beide Ohren. "Sieh es positiv. Wenn du Arik nicht sehen willst, ist es perfekt. Hier wird er dich zu allerletzt vermuten."
Da hatte sie recht, zugegeben. Trotzdem war ich zu verdutzt, um irgendetwas anderes zu tun, als sie anzustarren.
"Du kannst das Kinderzimmer haben." Nicci kicherte und streichelte über ihren Bauch. "Die nächsten sechs Monate werden wir es noch nicht brauchen."
Die Ausreißerin
"Wo soll's denn hingehen, Schätzchen?"
Der Zigarettenrauch, den die Frau mit diesen Worten ausatmete, brannte in Darys Augen. Sie blinzelte und musste husten, bevor sie antworten konnte: "Ganz egal. Nur weg von hier."
Die Frau hinter dem wuchtigen Steuer des LKWs lächelte sie hintergründig an. Ihr Mittvierziger-Gesicht wirkte freundlich, trotz ihrer herben, fast schon männlichen Züge. Ganz offensichtlich war sie amüsiert über ihren unerwarteten Fahrgast. "Ich fahre nach Süden. Ich kann dich nur irgendwo auf dem Weg absetzen."
"Ist in Ordnung. Ich sagte doch, ich habe kein Ziel." Dary lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen. Ihr Rücken schmerzte, denn den riesigen Reiserucksack, der sich nun im Stauraum befand, hatte sie zuvor stundenlang auf dem Rücken getragen.
Das Fahrzeug sprang mit einem tiefen, ungleichmäßigen Brummen an. Die Scheinwerfer flammten auf und durchbrachen die Dunkelheit auf dem abgelegenen Rastplatz so plötzlich, dass Dary geblendet den Kopf abwandte.
"Du bist ein Ausreißer, was?", fragte die Frau unverblümt. "Mein Name ist übrigens Darleen. Und du bist?"
"Dary."
Darleen runzelte die Stirn und aschte aus dem Fenster. "Und das ist die Abkürzung für was?"
Читать дальше