Dary sagte nichts und knabberte an ihren Chips. Diese letzten Worte beruhigten sie auf eine angenehme Weise. Das erste Mal in dieser Nacht wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich davonlief , und der Gedanke hatte etwas Belebendes und Aufregendes und erweckte den Rebell in ihr wieder zum Leben.
Darleen stellte nun tatsächlich keine Fragen mehr. Auch wenn Dary ihr ansah, dass sie sich mehr und mehr Gedanken darüber machte, was es mit der jungen Anhalterin auf sich hatte, blieb Darleen in dieser Hinsicht zurückhaltend. Stattdessen begann sie, hemmungslos über sich selbst zu erzählen, und hob Darys Laune schon bald mit ihrer lockeren, derb witzigen Art. Sie lachten und übersäten das Führerhaus mit Chipskrümeln, bis der erste blass rote Schimmer am Himmel auftauchte.
„Ich bin übrigens auch einmal von Zuhause weggelaufen“, erzählte Darleen. Das überraschte Dary nicht sonderlich, nachdem sie sich gerade ausschweifende Geschichten über Alkohol-, Sex- und Drogenexzesse aus Darleens Jugend angehört hatte. „Ich war damals wohl etwa so alt wie du, sechzehn oder siebzehn, ich weiß es nicht mehr.“
„Und?“
„Ich war nur einen Tag lang fort.“ Darleen seufzte. „Meine Eltern hatten mir die Polizei auf die Fersen gehetzt. Aber als die mich fanden, war ich sowieso schon längst wieder freiwillig auf dem Rückweg. Es gehört mehr dazu, auszureißen, als nur seine sieben Sachen zusammenzupacken und zu gehen, weißt du?“
Dary sagte nichts.
„Ich hatte mir zum Beispiel nicht die geringsten Gedanken darüber gemacht, wo ich die Nächte verbringen sollte. Ich hatte nicht genug Geld, um mir irgendwo ein Zimmer zu nehmen. Und schließlich konnte ich auch nicht einfach auf einer Parkbank schlafen… dafür war ich nicht mutig genug. Es war nämlich schon später Herbst.“ Sie lachte herzlich. „In der Hinsicht hast du schon bessere Chancen.“
„Ich habe ein Zelt dabei“, sagte Dary mit dem automatischen Drang, sich zu rechtfertigen und zu zeigen, dass ihr Vorhaben ernsthaft war. „Das dürfte vorerst reichen.“
„Ja, vielleicht. Aber ohne dich jetzt angreifen zu wollen… ich warne dich nur vor. Spätestens nach einer Woche, nämlich wenn du das meiste deines Geldes schon für Essen ausgegeben hast, wenn du Rückenschmerzen bekommst, wenn dir einfällt dass du nach den Ferien wieder zur Schule gehen müsstest und dass deine Eltern sich wahnsinnige Sorgen machen… Dann wird dir auffallen, dass du eigentlich wieder nach Hause möchtest.“
Natürlich spürte Dary den Drang, dem zu widersprechen, das Argument zu bringen, dass sie das Abitur ohnehin nicht bestehen und die Schule bald abbrechen würde, aber ihr Verstand sagte ihr, dass Darleen mit ihren Worten völlig Recht hatte. Dary war sich darüber im Klaren, wie perspektivlos ihr Vorhaben war. Genau aus diesem Grund hatte sie es schließlich getan. „Hast du es bereut?“, fragte sie stattdessen. „Dass du ausgerissen bist?“
„Nein, ganz und gar nicht. Meine Mutter hat mich geohrfeigt, mehr Konsequenzen hatte es nicht.“ Sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. „Schon allein die Erfahrung war es wert.“
„Versuchst du deshalb nicht, mich davon abzuhalten?“
Darleen zuckte die Schultern. „Vielleicht.“
Dary war nicht von zu Hause ausgerissen, weil sie besonders rebellisch oder abenteuerlustig war. Ganz im Gegenteil. Die Leute sagten, sie sei schon immer ein ausgesprochen ruhiges Mädchen gewesen, das nie durch ihr Verhalten auffällig geworden war. Um es ganz genau zu nehmen: Dary war so durchschnittlich, wie es jemand überhaupt sein konnte. Ihre Beziehung zu ihren Eltern erschien im Großen und Ganzen so problematisch, wie es für ihr Alter normal war. Sie hatte zwar niemanden, den sie ihre beste Freundin nennen konnte, dafür aber jede Menge Leute, mit denen sie guten Kontakt hatte. Sie war einigermaßen beliebt und auch wenn sie möglicherweise keinen Abiturabschluss bekam, hielt sie sich nicht für unintelligent. Einen Freund hatte sie keinen, und eigentlich hatte sie auch noch nie einen gehabt… aber sie wusste, dass ihr schon mehr als ein Junge nachgeschaut hatte. Sie sagte sich ständig, dass sie zufrieden mit ihrem Aussehen war, leicht neue Kontakte fand und alles in allem ziemlich ausgeglichen lebte.
Es war Rika gewesen, die ihr gezeigt hatte, dass etwas nicht stimmte.
„Du hörst gerne zu“, stellte Darleen nach fast vier Stunden in Gegenwart ihres Fahrgastes fest. „Aber du redest nicht gerade viel.“
„Ich wüsste nicht, worüber.“
Das Schweigen setzte wieder ein. Es gefiel Dary nicht, wie hell es draußen geworden war. Es war sonderbar, aber sie hatte das Gefühl, sich im Tageslicht nicht so sicher fühlen zu können wie zuvor in der Dunkelheit. Aber es nützte nichts, sie hatte Tatendrang und wollte auf keinen Fall länger im LKW sitzen.
„Setzt du mich bitte am nächsten Parkplatz ab?“
„Ganz wie du willst.“
Zwei Minuten später rollte der LKW von der Hauptspur auf einen von dicht stehenden Bäumen umsäumten Rastplatz.
„Sicher, dass du hier raus möchtest?“, fragte Darleen, die Stirn besorgt in Falten gelegt. „Sieht so aus, als gäbe es hier weit und breit keine Stadt.“
„Das macht nichts“, versicherte Dary ihr lächelnd. „Ich bin für alles gerüstet.“
„Na dann, auf Wiedersehen, Ausreißerin. Falls ich dich mal wieder am Straßenrand stehen sehe, werde ich bestimmt wieder anhalten.“
„Danke.“ Dary öffnete ihre Tür und glitt aus dem LKW. Mit einiger Mühe zog sie ihren Rucksack hinterher und hievte ihn sich auf den Rücken. Sie fühlte sich plötzlich so frisch und voller Energie, als wäre sie gerade neu geboren worden. Als sie die Tür zuschlug und Darleen zum Abschied winkte, lag auf Darys Gesicht das Grinsen eines Abenteurers, der gerade einen Blick auf den Schatz am Ende seiner Odyssee geworfen hatte.
Der erste Tag dieser Odyssee würde sehr heiß werden. Die Sonne wanderte ungestört von jeglichen Wolken den Himmel hinauf und Dary konnte sich des Gedankens nicht erwehren, einen gigantischen Suchscheinwerfer auf sich zu spüren. So ungefähr musste man sich als Sträfling auf der Flucht fühlen. Natürlich war es eine spontane Flucht, die sich aus irgendwelchen unglaublichen Zufällen ergeben hatte. Und jetzt musste sich der Sträfling mit nichts anderem als seiner Willenskraft gegen ein ganzes Bataillon aus Verfolgern durchsetzen.
Dieser Vergleich war albern. Dary wusste nicht einmal, ob sie Verfolger hatte. Sie traute ihren Eltern durchaus zu, dass sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um ihr Verschwinden zu bemerken. Als Dary heute Nachmittag das Haus verlassen hatte, waren ihre Eltern gerade dabei gewesen, sich zum ungefähr siebenhundervierundachzigsten Mal gegenseitig all ihre Fehler an den Kopf zu werfen. Sie hatten sich nicht gestritten. Das Wort Streit gefiel Dary nicht, es hörte sich viel zu gewöhnlich an. Einen Streit hatte jeder mal. Wenn sich ein Elternpaar in jeder Sekunde des Zusammenseins gegenseitig nieder machte, dann musste das anders heißen. Man sollte ein Wort dafür erfinden, das dramatischer klang als Streit .
Sie fühlte, wie ihre innere Wut sich in ihrem Kopf festzusetzen begann, und atmete tief ein, um sich wieder davon zu lösen. Was hatte es für einen Sinn, sich über solche Dinge aufzuregen? Wahrscheinlich war es nur eine Phase, die ihre Eltern momentan durchmachten, eine Phase, die jeder ganz schnell vergessen würde, wenn sie erst einmal vorbei war. Darys Eltern waren ein Ehepaar wie jedes andere auch. Wieso also sollte sie sich Sorgen machen? Außerdem war sie von solchen Dingen im Augenblick im wahrsten Sinne des Wortes meilenweit entfernt.
Es zählte nur das Jetzt und der steinige Untergrund des Weges, dem Dary ins Ungewisse folgte.
Vom Rastplatz aus führte ein schmaler Trampelpfad in den Wald hinein, dessen sattes Junigrün sich jetzt langsam immer dichter über ihrem Kopf zusammenzog. Die Bäume spendeten zwar Schatten, aber das half nur minimal gegen die Hitze. Schon sehr schnell hatte Dary ihr Zeitgefühl verloren. Sie wunderte sich ein wenig, dass der Pfad überhaupt so weit in den Wald hineinführte. Für gewöhnlich dienten diese Pfade nur dazu, den Reisenden, die ein menschliches Bedürfnis verspürten, einen Weg ins Unterholz zu weisen. Doch dieser Weg hatte sich nach den ersten Metern, die durch unappetitliche Müllablagerungen gesäumt waren, zu einem steinigen Untergrund ausgeweitet, den man gut und gerne als Waldweg bezeichnen konnte. Diesen Umstand nahm Dary als Anlass zu der Annahme, dass sie zumindest demnächst nicht querbeet durchs Unterholz stapfen musste.
Читать дальше