Irgendwo würde dieser Weg sie schon hinbringen.
Dary hatte schon den ganzen Tag lang bewusst darauf geachtet, nicht auf ihre Umgebung zu achten. Das Resultat davon war, dass sie nicht einmal annähern wusste, wo sie sich gerade befand. Sie hätte nicht einmal mehr sagen können, ob sie sich von dem Punkt aus, an dem Darleen sie abgesetzt hatte, nach Norden, Süden, Osten oder Westen bewegt hatte. Ein Ortsschild war ihr schon seit Stunden nicht mehr begegnet und den Namen auf dem letzten hatte sie vergessen. Diese völlige Orientierungslosigkeit erheiterte sie. Es erweiterte das Gefühl der Freiheit noch mehr und gab ihr gleichzeitig die Gewissheit, jetzt nicht mehr zurück zu können.
Wahrscheinlich würde sie die nächsten Stunden mit diesem Wald vorlieb nehmen müssen… dann warteten vielleicht endlose Getreidefelder auf sie, Kuhweiden und irgendwann vielleicht das nächste Dorf. Dary konnte sich selbst nicht erklären, woher sie die Freude hatte, mit der sie die so ungewisse nahe Zukunft auf sich zukommen ließ. Sie wusste nur, dass es keine Rolle spielte, ob sie eine Stunde, einen Tag oder eine Woche durch diesen Wald laufen musste.
Was auch immer dort in der Ungewissheit auf sie wartete, war es wert.
Der innere Wahrheitsgenerator
Ich tat es tatsächlich. Ich ließ mich auf Niccis Angebot ein und blieb bei ihr und David. Wurde ich jetzt zum Schmarotzer? Meine Güte, Nicci hielt tatsächlich auch nach all den Jahren noch immer an unserer Scheinfreundschaft fest und ich war dabei, das schamlos für mich auszunutzen.
Natürlich bereute ich den Entschluss dazubleiben schon während der ersten Stunden. Nicci wuselte so lange im Kinderzimmer herum, bis es eine, wie sie sagte, gebührende Unterkunft mich war. Als ich das Zimmer betrat, glaubte ich, mir würden vor pedantischer Ordnung und Sauberkeit die Augen weggeätzt. Das einzige, was mich in diesem Raum an ein Kinderzimmer erinnerte, war der Teddybär, der mit traurig geneigtem Kopf auf dem Fenstersims saß. Ansonsten hätte es genauso gut auch ein Krankenhauszimmer sein können, nichtssagend und seelenlos. Das Kind tat mir jetzt schon leid.
Niccis strahlendem Blick nach zu urteilen dachte sie anders darüber.
"Ist es nicht wundervoll?", fragte sie und wiegte ihren Bauch, den sie mit beiden Händen umschlossen hielt, hin und her. "Ich kann es kaum erwarten, bis unser kleiner Nachwuchs hier einziehen kann."
Ich beließ es bei einem Lächeln und einem Nicken.
In dieser Nacht schlief ich nicht sehr viel. Ich fühlte mich unwohl und meine Gedanken kreisten immer wieder um die letzten Worte zwischen mir und Arik.
Du hast auch fünf Jahre lang behauptet, dass du mich liebst. Was ist damit?
Das war eine Lüge.
Stimmte das? Hatte ich tatsächlich fünf Jahre meines Lebens damit verbracht, Arik Hauptmann meine Liebe nur vorzuheucheln? Hatte ich fünf Jahre verschwendet, mit einem Mann, den ich nicht liebte? Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen bei diesem Gedanken. Ich wusste die Antwort darauf, und sie gefiel mir nicht. Es war der Dorn tief in meiner Seele und ich hatte Angst, ihn zu bewegen und mir Verletzungen zuzufügen.
Also wälzte ich mich stundenlang in dem nach Waschpulver riechenden Bett hin- und her. Wenn ich für wenige Minuten einschlief, überfielen mich die widersinnigsten Träume. Ich träumte von Schmerzen und von Arik, der als dunkler Schatten über mir war und mich zu Boden drückte, bis ich keine Luft mehr bekam. Ich träumte von schwarzen Dornenranken auf nackter Haut und einem Schemen, der einfach nur dastand, mich vorwurfsvoll ansah und in der Ferne verschwand, für immer unerreichbar.
Ich schmeckte meine eigenen Tränen und wachte davon auf. Überrascht strich ich mir die salzige Feuchtigkeit von den Wangen und betrachtete meine glänzenden Finger. Es war Jahre her, dass ich das letzte Mal geweint hatte, und jetzt schienen meine Tränen aus dem Nichts zu kommen. Oder zumindest aus einem Leben, das zu weit zurücklag, als dass es noch zu mir gehörte.
Etwas in mir, das ganz nah bei meinem Herzen und meiner Seele lag, wand sich vor Schmerzen und ich vergrub schluchzend das Gesicht zwischen meinen Knien. Der Dorn hatte sich gelockert. Verdammt, was war nur mit mir los?
In den letzten Stunden hatte sich das Leben, das ich mir in den letzten fünf Jahren aufgebaut hatte, in Asche und Staub verwandelt. Ich war mir nie darüber bewusst geworden, dass Arik die Säule und das Fundament dieses Lebens darstellte. Jetzt war es mir klar.
Und ich hasste mich dafür, dass ich es soweit hatte kommen lassen.
Ohne jeden Laut zog ich mich an, schlich aus dem Zimmer und trank in der Küche eine Tasse eiskalten Kaffee. Ich hatte zumindest geglaubt, dass ich keine verdächtigen Geräusche von mir gegeben hatte. Trotzdem tauchte nach zehn Minuten Nicci im Türrahmen auf.
"Kannst du nicht schlafen?", fragte sie mit einem fast schon mütterlich besorgten Unterton. Ich sah ihre Augenringe. Ich war nicht die einzige, die heute Nacht keinen Schlaf fand. Das beruhigte mich und ich nickte über den Rand meiner Tasse hinweg.
"Ich auch nicht", gestand Nicci und saß mir sogleich gegenüber. Ihr Blick streifte angeekelt meine Tasse. "Kalten Kaffee? Ich mache uns eine Kanne frischen, wenn du..."
"Nein danke, das muss nicht sein", fiel ich ihr ins Wort. "Ich trinke gerne kalten Kaffee. Er macht wach, weil er so eklig ist."
Nicci lachte, obwohl ich mir sicher war, dass sie mich spätestens jetzt für eine Verrückte hielt.
"Und, was raubt dir den Schlaf?", fragte ich sie. Das interessierte mich wirklich. Jemand, der ein so perfektes Leben führte wie Nicci, sollte doch den Schlaf der Gerechten schlafen.
Sie hob seufzend die Schultern. Das erste Mal überhaupt glaubte ich in ihren Augen zu sehen, dass sie etwas bedrückte. Auch wenn sie es mit dem gleichen sonnigen Lächeln übertönte, das sie immer lächelte. Und im nächsten Augenblick bezweifelte ich schon, etwas Derartiges gesehen zu haben. Nicci sah genauso wunschlos glücklich aus wie immer. "Ach, ich weiß es nicht, wahrscheinlich sind es die Hormone." Sie kicherte kindisch. "Und du? Ist es wegen Arik?"
"Ja. Es ist ein komisches Gefühl."
"Ob er wohl nach dir sucht?"
Ich schnaubte und hob dramatisch die Augenbrauen. "Und ob er nach mir sucht. Wenn er nicht jetzt schon einen Suchtrupp losgeschickt hat, dann macht er das spätestens morgen früh."
Nicci sah mich eindringlich an. "Wenn er dich so stark zurückwill, dann liebt er dich vielleicht wirklich immer noch."
Diese Worte hörten sich an wie aus einem Film mit einem furchtbar kitschigen Happy End. Ich nahm einen Schluck und ließ die bittere Flüssigkeit langsam meine Kehle hinunterfließen, bevor ich antwortete. "Das kann schon sein."
"Und es ist dir egal?", fragte Nicci fast empört.
"Eine Frau in meiner Situation darf herzlos sein", behauptete ich böse lächelnd. "Wenn er mich liebt, hätte er mich nicht betrügen sollen. So einfach ist das."
Nicci wiegte versonnen den Kopf. "Das stimmt natürlich."
Wir schwiegen uns minutenlang an. Draußen vor dem Fenster jagten sich irgendwo lautstark zwei Katzen.
Nein, ich würde ihm nicht verzeihen. Vielleicht, wenn ich ihn geliebt hätte, vielleicht hätte ich dann über diesen einen Fehler hinwegsehen können, irgendwann, ganz vielleicht. Liebe ist schließlich Liebe. Aber ich hatte ihn nie geliebt. Punkt. So war es nun mal. Und eigentlich war es mir schon immer egal gewesen, was er für mich empfand. Jetzt hatte ich endlich den Vorwand, den ich brauchte, um ihn loszuwerden, ohne ihm erklären zu müssen, dass ich schon seit Jahren gehen wollte.
Wow, was Kaffee doch für eine enorme Wirkung auf den inneren Wahrheitsgenerator hatte. Vielleicht würde ich ja tatsächlich mal anfangen, ehrlich zu mir selbst zu sein. Der Gedanke amüsierte mich so sehr, dass ich nur mit Mühe mein sarkastisches Grinsen vor Nicci verbergen konnte.
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