Mit zwei Händen ließ es sich deutlich leichter fahrradfahren und ich gewann schnell an Geschwindigkeit, während ich aus der Stadt radelte. Der kleine Vorort, den Arik und ich als Wohnsitz gewählt hatten, um nicht all zu dicht bei unseren Arbeitsplätzen zu leben, kam rasch näher. Ich fragte mich, was ich tun würde, wenn ich Arik wieder gegenüberstand. Was er tun und sagen würde. Je näher ich kam, desto mehr hätte ich dafür gegeben, all meine Sachen einfach aus dem Haus zaubern zu können, ohne eintreten zu müssen.
Ich erreichte unsere Straße und sah bereits Ariks Auto in der Einfahrt stehen. Meine Kehle wurde ganz trocken und ich hatte das Gefühl, mein Blut würde kochen. Mein Kopf war absolut leer, als ich mich vom Sattel schwang und das Rad abstellte. Diese Sache musste so schnell wie möglich über die Bühne gehen. Mit fliegenden Fingern fischte ich in meiner Tasche nach dem Schlüssel und drehte ihn fast schon brutal im Schlüsselloch um.
Es empfing mich der altbekannte Flur mit den altbekannten Fotos von Ariks Familie, der kleinen, schlichten Kommode und den strahlend weiß gestrichenen Wänden. Noch nie war mir dieses Haus so kalt vorgekommen. Plötzlich wurde mir bewusst, warum ich Arik all die Jahre völlig freie Hand gelassen hatte, wenn es um Einrichtungsfragen ging. Eigentlich war das hier noch nie mein Zuhause gewesen. Ich war in diesem Augenblick heilfroh, dass dieses Haus auf dem Papier ganz allein Arik gehörte… dass ich nicht an der Finanzierung beteiligt war. Auf diese Weise musste ich keinerlei schlechtes Gewissen haben, für immer von hier auszuziehen.
Arik stand im Türrahmen zum Wohnzimmer gelehnt und starrte mich an. Ich hatte den Eindruck, sein blondes Haar sei zauser als sonst und überhaupt sah er ziemlich mitgenommen aus. Er hatte die ersten Bartstoppeln stehen lassen, was absolut untypisch für ihn war. Sein Hemd war ungebügelt und er trug keine Schuhe. Aber dieser Anblick löste weder Mitgefühl noch Reue in mir aus. Der Blick aus seinem scharfkantigen Gesicht war so abschätzig und kalt, dass ich mich extrem beherrschen musste, ihn nicht auf der Stelle anzuschreien.
Stattdessen wich ich seinem Blick aus und ging schweigend an ihm vorbei ins Schlafzimmer. Ich würde ihn ganz einfach ignorieren, bis ich hier fertig war, und würde wieder gehen.
Der Reisekoffer, den ich brauchte, war auf dem Schrank verstaut und ich hatte meine Mühe, an ihn ranzukommen, aber es gelang mir wahrscheinlich allein deshalb, weil ich um nichts in der Welt Arik um Hilfe gebeten hätte. Ich wuchtete den schweren Koffer auf das Bett und begann, meine Kleidungsstücke aus dem Schrank zu nehmen.
Arik war mir nachgegangen und beobachtete mich von der Tür aus. „Wo warst du?“, fragte er.
„Mh?“, machte ich und tat, als hätte ich ihn jetzt erst bemerkt. „Hast du etwas gesagt?
„Ich fragte, wo du warst.“
Die Luft knisterte, und ich warf die Sachen einfach achtlos in den Koffer. Meine eigene Wut und Ariks Stimme, die so neutral klang, dass es nichts Gutes bedeuten konnte, waren eine explosive Mischung, der ich mich nicht lange aussetzen wollte.
„Das geht dich nichts an“, erwiderte ich kalt.
„Du willst wirklich gehen?“
Ich stieß ein schnaubendes Lachen hervor und deutete auf den Koffer. „Du bist ja ein echter Blitzmerker.“
„Du kannst nicht gehen.“
„Oh, du hast keine Ahnung, was ich alles kann.“ Ich triefte vor Sarkasmus und bemerkte erschrocken, dass es mir Spaß machte, mit Ariks Gefühlen zu spielen. Ich musste aufpassen. Das Eis, auf dem wir uns gerade bewegten, war sehr dünn.
„Es gibt einen Anderen, stimmts?“ Seine Stimme klang bei diesen Worten anders. Sie jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken und ich konnte nicht anders, als ihm ins Gesicht zu sehen. Was ich dort erblickte, ließ mich einen Moment innehalten. Ariks Augen waren so ausdruckslos, als hätte jemand alles Leben in ihnen ausgesaugt und es mit etwas ersetzt, das schrecklicher war als die bloße Abwesenheit von Leben. Für einen Augenblick lang… kannte ich den Mann nicht, der mir gegenüber stand.
„Wieso interessiert dich das?“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte. „War zwischen uns mal etwas, das verhindert hätte, dass es für einen von uns jemand Anderen gibt? Ich erinnere mich nicht.“
Er sog scharf die Luft ein, um etwas zu sagen, aber ich kam ihm zuvor.
„Wie geht es Elena?“
Sein Gesicht war eine Maske aus purem Zorn. „Du weißt verdammt nochmal genau…“
„Dass du sie zwei Monate lang gefickt hast, ja das stimmt. Aber das kannst du jetzt meinetwegen so oft tun, wie du willst und mit wem du willst. Ich spiele keine Rolle mehr dabei.“ Ich zog den Reißverschluss des Koffers zu, hievte ihn hoch und zog ihn vom Bett. „Falls ich noch irgendetwas brauche, werde ich es mir im Lauf der Zeit holen, du musst dir keine Mühe geben, mir etwas nachzuschicken. Du wirst sowieso nicht erfahren, wo ich sein werde.“ Ich hörte meine Worte wie ein Zuhörer von außen und mein innerliches Unbehagen wurde immer größer. Warum tat ich das? Warum streute ich Salz in Ariks Wunden, trat zu, obwohl er schon am Boden lag? Ich musste sofort damit aufhören und einfach von hier verschwinden, bevor dieser beängstigende Hass die Überhand über mich gewann.
Ich versuchte einen klaren Kopf zu bekommen und überprüfte, ob ich alles beisammen hatte, was ich brauchte, um die nächsten Wochen nicht mehr hier herkommen zu müssen. Ich kam zu keinem Resultat und beschloss, dass es einfach reichen musste.
Und dann ging ich. Ich schob mich an Arik vorbei, der erstaunlicherweise weder etwas sagte, noch versuchte, mich aufzuhalten. Erst an der Tür überkam es mich heißkalt.
„Das wird schwierig, mit dem Koffer auf deinem klapprigen Fahrrad“, bemerkte Arik hinter mir feixend.
Ich sagte nichts, sondern verfluchte mich für meine Dummheit.
„Soll ich dich zu deinem Auto fahren? Vielleicht hast du Glück und die Werkstatt hat jetzt noch geöffnet. Obwohl ich ja bezweifle, ob sie die alte Schrottkiste schon wieder instand gesetzt haben.“
Tja, da saß ich nun gehörig in der Patsche. Aber es half ja alles nichts. „Okay.“
„Okay was?“
„Fahr mich bitte zu meinem Auto.“ Mein Stolz litt furchtbare Qualen.
Arik hob die Augenbrauen, zog seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche und ging an mir vorbei nach draußen.
Schweigend stiegen wir in den schwarzen BMW, der ein Geschenk von Ariks Vater war, und fuhren ebenfalls schweigend los. Es kam mir vor, als wären wir ans andere Ende der Welt unterwegs, so zog sich die Stille in dem Wagen dahin. Die ganze Zeit hielt ich den Koffer auf meinen Knien fest und versuchte, Arik nicht anzusehen. Ich wusste, dass er ein selbstzufriedenes Lächeln aufgesetzt hatte, wie immer, wenn er mich in eine peinliche Situation geraten sah.
Nach etwa fünfzehn oder zwanzig Minuten waren wir bei der Werkstatt angekommen, deren Tore zum Glück noch offen standen. Mein kleiner roter Corsa stand, offenbar zur Abholung bereit, auf dem Hof.
„Da sind wir“, sagte Arik. Die Worte hatten etwas Endgültiges, das mir gefiel.
Ich streckte die Hand nach dem Türgriff aus, um auszusteigen, bemerkte aber, dass die Tür abgeschlossen war. Verwirrt drehte ich mich zu Arik um. Er sah mich nicht an, sondern starrte mit demselben toten Blick, den er kurze Zeit zuvor in der Wohnung aufgesetzt hatte, auf die Straße. Eine beklemmende Angst überkam mich. „Arik. Mach die Tür auf.“
Keine Reaktion. Ich holte tief Luft. Zur Not würde ich um Hilfe schreien und gegen das Fenster trommeln, bis mich einer der Arbeiter in der Werkstatt bemerkte. Langsamer und gefasster sagte ich: „Es reicht jetzt. Lass mich raus.“
Ein dumpfes Klicken und die Verriegelungsknöpfe schossen nach oben. Sofort öffnete ich die Tür, stieg aus und zog den Koffer nach. Mein Herz pochte laut. In dem Auto eingesperrt zu sein hatte mir mehr Angst eingejagt, als ich mir eingestanden hatte. Nein… in diesem Moment mit Arik allein zu sein , das war es, was mich wirklich beängstigt hatte.
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