Dary versuchte zu sprechen, aber es ging nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Tatsache, dass der Fremde auf sie zukam, ganz langsam und auf eine Art und Weise, die ohne jeden Zweifel bedrohlich war. Den Gegenstand, den er in der Rechten hielt, hielt er vor ihren Augen verborgen, was ihre Beunruhigung exponentiell steigen ließ.
„Wieso auf einmal so ängstlich?“, spottete der Fremde. Seine Stimme war tief und ruhig, besaß aber auch ein hauchdünnes Rasseln, präsent und gleichzeitig irreal wie das Geräusch eines starken Regenschauers, den man in einem geschlossenen Raum auf das Dach prasseln hört. „Du musst doch erwartet haben, jemandem zu begegnen. Die offene Tür, der Player, der nicht dir gehört… deine Taschenlampe, die Pentagramme… du hast all das gefunden und bist trotzdem hier her gekommen.“
Dary war sich nicht sicher, ob es wirklich Boshaftigkeit war, die in dieser Stimme lag. Für einen Augenblick glaubte sie fast, eine Art Bewunderung und noch etwas völlig Anderes herauszuhören, aber das war nun wirklich kein Grund, plötzlich Vertrauen zu fassen. Sie holte tief Luft und war endlich fähig, zu sprechen: „Es tut mir Leid. Ich… ich wollte nur…“
„Du wolltest nur mal testen, ob dir jemand einen Streich spielt?“ Der Fremde gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Hier, wo dich niemand kennt? Sei realistisch. Ich kann dir sagen, was du hier tust. Der einzige Grund, das zu tun, was du gerade getan hast, ist absolute Lebensmüdigkeit.“
Dary wich zurück.
Auf dem Gesicht unter der Kapuze erschien ein Lächeln. Dann verschwand es, und der Fremde flüsterte: „Und jetzt lauf endlich.“
Als sie nach zwei Sekunden noch immer nicht reagierte, bewegte sich der Fremde minimal, sodass der Gegenstand sichtbar wurde, den er in der rechten Hand hielt. Es war eine gut achtzig Zentimeter lange, gebogene Eisenstange. „Ich sagte: Lauf!“
Es war kein Streich. Sie war in Gefahr. Diese Erkenntnis durchfuhr Dary wie ein Blitzschlag und bewegte ihre Beine fast ohne ihr Zutun. Sie wirbelte herum, rannte durch den Flur und stürmte aus dem Haus, hinaus auf die Lichtung, blind vor Angst der Dunkelheit entgegen.
Der Reiz des Unbekannten
Der Kopfschmerz setzte ein, noch bevor ich überhaupt wach war. Und ganz ähnlich verhielt es sich auch mit dem beschämenden Gefühl, in eine sehr peinliche Situation geraten zu sein. Erinnerungsfetzen kratzten an meinem Gedächtnis, so flüchtig und ungreifbar wie Lichtblitze in einem dunklen Raum voller wirrer Bewegung. Meine Sinne waren so betäubt, dass ich zwar sehen konnte, dass Nicci über mich gebeugt stand und mit hochgehobenen Augenbrauen eine Ansprache hielt, aber kein Wort von dem verstehen konnte, was sie sagte. Im Anbetracht ihrer energischen Mimik war ich darüber aber auch ganz froh.
„Wie spät ist es?“, fragte ich, eigentlich nur um zu testen, ob ich noch zum Sprechen in der Lage war. Das Ergebnis war ein unverständliches Lallen, das mich kaum noch an meine eigene Stimme erinnerte.
„Es ist viertel vor zehn und wir frühstücken jetzt.“
Das waren die ersten Worte, die ich verstehen konnte, und es waren auch die letzten, die Nicci sagte. Mit resignierender Miene drehte sie sich um und ging aus dem Zimmer. Die Tür fiel hinter ihr mit der Lautstärke einer atomaren Explosion ins Schloss.
Ich drehte mich auf die Seite und vergrub mein Gesicht in dem Kissen. Jetzt aufzustehen war eine ganz und gar schlechte Idee, das sagten mir Kopf, Magen und sämtliche Gliedmaßen gleichzeitig. Nicht einmal der Gedanke an einen schönen heißen Kaffee war in der Lage, mich aus dem Bett zu locken. Was um alles in der Welt hatte mich geritten, mich dermaßen zu betrinken?! Schon allein die Vorstellung, mich zu Nicci und David an den Frühstückstisch zu setzen, mich ihren Blicken und Fragen aussetzen zu müssen… ich stöhnte in mein Kissen. Ich war selbst schuld, daran half auch alles Zetern mit meinem Schicksal nichts. Früher oder später würde ich mich sowieso diesem infantilen Anflug von Leichtsinnigkeit stellen müssen.
Also kletterte ich aus dem Bett, im Versuch die Augen mit dem rechten Handrücken vor der schmerzhaften Helligkeit abzuschirmen, und suchte nach meinen Kleidern. Ich fand es einigermaßen beunruhigend, dass ich mich erinnern konnte, mich derer entledigt zu haben. Alkohol war offenbar schon lange nicht mehr meine Stärke.
Auf dem kleinen Nachtspint fand ich zwei Kleiderstapel; einmal mein grauenvoll nach erkaltetem Rauch stinkendes Outfit vom Vortag, daneben eine säuberlich zusammengelegte rosa Jogginghose sowie ein weißes T-Shirt. Letzteres stammte eindeutig von Nicci. Ich hatte noch nie besonders viel von Sport gehalten und eine Jogginghose war noch nie Bestandteil meines Kleiderrepertoires gewesen- erst recht nicht in dieser Farbe. So langsam stieg mir schon wieder die Schamesröte ins Gesicht. Jetzt würde ich auch noch in Niccis Kleidern herumlaufen… wie tief war ich eigentlich gesunken?
So ging das nicht weiter. Ich würde so schnell wie möglich meine Sachen bei Arik abholen… und vielleicht war es gar keine schlechte Idee, meinen Vater anzurufen. Ich hatte ganz und gar kein gutes Gefühl dabei. Mein Vater war mir mindestens genauso fremd wie Nicci und ich war mir ganz und gar nicht sicher, wie er reagieren würde, wenn ich vor seiner Tür auftauchte und um Unterkunft bäte. Aber hier konnte ich auf keinen Fall bleiben. Und wenn ich noch einmal zu Arik zurückkehren musste, dann nur, um meine Sieben Sachen zu packen und sofort wieder zu verschwinden.
Vorerst galt es allerdings, diesen Morgen zu überstehen.
Die Hose und das T-Shirt passten mir wie angegossen. Mit dem Kamm aus meiner Handtasche versuchte ich, meine Haare einigermaßen zu bändigen. Da es in diesem spartanischen zukünftigen Kinderzimmer keinen Spiegel gab, musste ich das Resultat meiner Fantasie überlassen und machte mich auf die Suche nach dem Badezimmer. Es lag glücklicherweise direkt nebenan und jemand hatte in vorausschauender Ahnung die Tür offen gelassen. Auch das Badezimmer blitzte und glänzte so vor Sauberkeit, dass es mir in den Augen wehtat. Als ich einen Blick auf den verquollenen Zombie im Spiegel geworfen und beschlossen hatte, dass es da eh nichts zu retten gab, verließ ich das Bad so schnell wie möglich und folgte dem penetranten Geruch nach gebratenem Speck ins Esszimmer.
Dort saß das perfekte Ehepaar, wie man es in der Werbung für Tütensuppen sieht, in einem Zimmer, das den Hauptseiten eines Möbelkatalogs entsprungen war. Das Esszimmer war nach allen Seiten hin offen, so wie es momentan modern war, und bestand eigentlich nur aus dem Tisch und jeder Menge unpraktischer, nach moderner Kunst aussehender Schränke und Regale, Nischen in den Wänden und zweifarbiger Tapete. Nicci saß mit überschlagenen Beinen und Plüsch-Hausschuhen kerzengerade auf ihrem Stuhl und las Zeitung, während sich ihre von Lockenwicklern gehaltenen Haare in einer weißlichen Masse aufzulösen schienen. Ihr gegenüber saß David und bestrich lustlos einen Toast mit Marmelade. Ich brauchte einen Moment, um das penibel rasierte Gesicht unter den blonden, kurzgeschorenen Haaren wiederzuerkennen. Ich hatte David als schweigsamen Eigenbrötler mit Türsteher-Körperhaltung und zotteligem Äußeren in Erinnerung, aber das schien sich alles geändert zu haben. Weil Nicci mit dem Rücken zu mir saß, war es David, der mich zu erst entdeckte.
„Oh, guten Morgen. Setz dich doch zu uns.“ Seine Stimme, sein Lächeln, sein Blick, alles war so unglaublich aufgesetzt, dass ich ein paar Sekunden gar nichts darauf antworten konnte. Hatte Nicci diesem Mann eine Gehirnwäsche verpasst?
Nicht, wenn es sich irgendwie umgehen lässt, dachte ich und lächelte so freundlich wie möglich. „Ähm, danke aber ich denke nicht.“
Nicci hatte die Zeitung gesenkt und sich zu mir umgedreht. „Was? Aber wieso nicht? Trink doch wenigstens einen Kaffee mit uns. Du siehst aus, als hättest du dringend einen nötig.“
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