Den letzten Satz überhörte ich einfach. „Es ist wirklich nett von euch, das alles hier… aber ich kann hier nicht länger bleiben. Ich werde meine Sachen von zu Hause holen und wieder bei meinem Vater einziehen.“
Nicci zwinkerte überrascht. „Nun… wenn das dein Wunsch ist. Du weißt, dass du hier immer willkommen bist.“
David verzehrte seelenruhig seinen Marmeladentoast, ohne noch einmal zu uns aufzusehen. Für einen Moment bedauerte ich ihn aufrichtig. Da saß er und würde bald der Vater eines Wonneproppens sein, der vermutlich genauso aussah und sich genauso benahm wie seine Mutter.
„Ich danke euch vielmals,“ versicherte ich Nicci. „Aber ich will eure Gastfreundschaft nicht länger beanspruchen. Ihr habt bald ganz andere Sorgen.“ Ich warf einen Blick auf Niccis Bauch und rief damit schon wieder diese alberne Reaktion Niccis hervor, in der sie die Hände an den Bauch legte und ganz abgetreten schuldbewusst lächelte.
„Gut, dann… wünsche ich dir viel Glück“, sagte Nicci und stand auf, um mich zu verabschieden. „Und falls das mit Arik nicht wieder in Ordnung kommt… da gibt es auch noch jede Menge anderer Männer.“
Ich nickte dankbar ob dieser nützlichen Weisheit und drückte ihre Hand.
Als ich ging, war ich heilfroh, mit Arik Schluss gemacht zu haben. Nicht auszudenken, wenn ich in ein paar Jahren genauso geendet wäre wie David- verheiratet mit einem Menschen, den ich überhaupt nicht ausstehen konnte.
Die frische Luft tat gut, auch wenn sie im ersten Moment meine Kopfschmerzen fast noch zu verschlimmern schien.
Ich suchte vor dem Haus nach meinem Fahrrad und hielt mich schon für vollkommen schwachsinnig, bis mir einfiel, dass ich ja mit dem Taxi hergekommen war und das Rad bei der Disko hatte stehen lassen. Seufzend machte ich mich auf den Weg. Bewegung war genau das, was ich jetzt am Nötigsten hatte. Der Morgen war sonnig und es wehte eine angenehme Frühlingsbrise- das perfekte Wetter für einen Spaziergang.
Zum Glück erinnerte ich mich wenigstens an den Weg zur Diskothek, sodass ich bereits nach knapp zwanzig Minuten ankam. Das Kastengebäude und der große graue Parkplatz erschienen vor mir und ich machte mich auf die Suche nach dem Gebüsch, in dem ich mein Rad versteckt hatte. Auch das fand ich ziemlich schnell. Mein Fahrrad aus dem Geäst zu befreien, das erwies sich jedoch als schwieriger, als ich gedacht hätte. Mein Gleichgewichtssinn war dermaßen beeinträchtigt, dass ich zwei Mal neben meinem Fahrrad im Gebüsch lag, bevor es mir gelang, es auf den Asphalt zu ziehen.
Meine Handtasche war bei der Aktion heruntergefallen und sein Inhalt war dank meiner leidlichen Angewohnheit, den Reißverschluss nicht ganz zu schließen, überall verteilt. Fluchend verpasste ich der Tasche einen Tritt, bevor ich mich bückte und die ganzen kleinen Utensilien aufsammelte; Handy, Geldbeutel, Schlüssel, Taschentücher, Tampons, Lippenstift, Haarspray, dutzende Quittungen… Zuletzt hob ich einen kleinen Zettel auf, der in der Mitte geknickt war, und faltete ihn verwirrt auf, da ich ihn nicht meinem gewöhnlichen Handtascheninhalt zuordnen konnte. In unordentlicher Schrift stand dort eine Handynummer.
Lust auf einen Orgasmus?
Ich lachte. Ja richtig, wie war noch gleich sein Name gewesen… Chris?
Unwillkürlich nahm ich mein Handy und spielte an der Tastatur herum. Sollte ich? Aber was garantierte mir, dass es überhaupt Chris‘ Nummer war? Gestern Nacht hatte ich schließlich mit einem halben Dutzend anderer Kerle an einem Tisch gesessen.
Sei’s drum.
Irgendetwas verleitete mich, keine Ahnung was. Aber in diesem Moment fand ich den Gedanken, diese Nummer anzurufen, einfach viel zu amüsant, um ihm nicht nachzugehen. Also wählte ich.
Freizeichen. Was zum Teufel mach ich hier?! Ich spürte, wie die Schamesröte mir ins Gesicht stieg, und wollte schnell abbrechen, aber da war es schon zu spät.
„Chris Keller?“
„Äh… hi. Hier ist äh…“ Ich hatte doch einen anderen Namen verwendet… jetzt wäre es nur schön gewesen, wenn ich mich auch an ihn hätte erinnern können.
„Emily?!“ Ein überraschtes Lachen. Er erkannte mich offenbar nur an meiner Stimme. „Wow, was bringt mich denn zu der Ehre?“
Seine Stimme und die leicht unverschämt selbstbewusste Art, wie er sprach, ließen mich vor Verlegenheit kein Wort hervorbringen.
„Hallo?“
„Ähm ja, entschuldige. Ich… hab da so einen Zettel mit einer Nummer gefunden und wollte nur mal herausfinden, wo der herkam.“
Chris lachte wieder. „Und das konntest du dir nicht denken?“
Er flirtete mit mir. Scheiße, jetzt musste ich mich entscheiden. Auflegen oder darauf eingehen. Irgendetwas in mir, das ich mir über Jahre hinweg antrainiert hatte, nämlich die Abwehrhaltung gegenüber jedes männlichen Interesses abgesehen von Ariks, blockierte mich. Diese Einsicht, und die Tatsache, dass Arik in diesem Gedankengang vorkam, halfen schon im nächsten Moment. Der Rebell in mir klopfte an die Tür. Ich war solo und konnte flirten, mit wem auch immer ich wollte.
Ich entspannte mich, schwang mir die Handtasche um die Schulter und stieg auf mein Fahrrad. „Na ja, so eine Ahnung hatte ich da schon.“
„Wo bist du gerade?“
Die Frage irritierte mich. „Ähm… ich bin gerade auf dem Weg nach Hause.“
„Nach Hause? Doch nicht etwa zu dem Kerl, der dich betrogen hat?!“
Ich grinste schmerzlich, während ich versuchte, das Fahrrad mit nur einer Hand vom Diskoparkplatz zu manövrieren. „Na ja, in gewisser Weise schon. Aber…“
„Lass das gefälligst! Komm doch stattdessen zu mir.“
„Was?!“
„Jetzt gleich. Ich wohne ziemlich zentral, ist bestimmt nicht weit. Und ich bin gerade dabei, Pasta zu kochen. Weißt du wie deprimierend es ist, jedes Mal die Hälfte Nudeln in der Packung lassen zu müssen? Erspar mir und der Pastatüte diese Schmach.“
Das war dermaßen flach, dass ich lachen musste. „Das geht nicht.“
„Warum?“
„Ich muss erstmal bei meinem Ex ausziehen, bevor ich mit irgendwelchen Männern Pasta esse!“
„Weißt du, es gelten in dieser Welt extreme Missverständnisse darüber, was man muss und was nicht.“
Diese Worte waren wie ein Tritt in die Magengrube, der mich total aus dem Gleichgewicht brachte. Ich schluckte schwer und unterdrückte die Erinnerung, die schwarz und übermächtig in mir aufzuwallen drohte, indem ich fester in die Pedalen trat.
„Ich… kann nicht!“, versuchte ich Chris zu überzeugen. Ich blickte an mir herunter und musste wieder lachen. „Ich sehe aus wie Sporty-Barbie, die man aus der letzten Mülltonne gefischt hat! Lass mich wenigstens meine Sachen holen, bevor du mich zu einem Date einlädst!“
„Ach, du willst ein Date mit mir? Ich dachte es geht nur um ein gemütliches Essen…“
„Verarschen kannst du dich selbst.“
Wir lachten beide, und es war erstaunlich, wie sehr mich das befreite.
„Okay“, sagte Chris. „Wir machen einen Deal. Ich stell‘ den Topf wieder ab und heb‘ die Nudeln für heute Abend auf. Du holst deine Sachen von diesem Mistkerl und rufst mich heute Abend an.“
Ich bekam kalte Füße. „Ich weiß nicht recht…“
„Deal, oder was?“
„Okay. Deal.“ Oh je. Andererseits war das ja bloß ein Date, kein Weltuntergang. Und es war eine hervorragende Möglichkeit, mir selbst zu beweisen, dass Arik der Vergangenheit angehörte.
Chris hatte aufgelegt. Ich war fast ein wenig enttäuscht, dass das Gespräch schon vorüber war, und seufzte wie ein verliebter Teenager, als ich das Handy zurück in meine Tasche steckte. Also musste ich mich heute Abend wohl auf ein Date einstellen… Die Mischung aus Vorfreude und Nervosität war wieder etwas, von dem ich fast vergessen hatte, wie aufregend es war.
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