Franziskus hörte auch, dass der Captain – er kannte seinen Namen bis heute nicht – mehrere Schiffe besaß, mit denen er Textilien und Bierfässer aus dem Heiligen Römischen Reich in die Karibik transportierte.
Karibik…
Franziskus Herz setzte einen Schlag aus, als er diese Neuigkeit erfuhr und machte danach einen freudigen Hüpfer, um etwas schneller als es sollte weiter zu schlagen. Es vergingen noch einige Tage, bis die Viva Colonia schließlich die Segel setzte und auslief, aber jetzt hatte der Junge wenigstens ein Ziel; und Hoffnung. Er wusste nicht, was ihn in der Karibik für ein Leben erwarten würde und wie es mit ihm weiterginge, wenn er erst einmal dort war, aber im Moment siegte die Freude, dem Kloster entkommen zu sein, über die Sorge um seine Zukunft.
Er spürte mit jedem Tag, dass die Luft wärmer und feuchter wurde. Sein leerer Magen gierte nach etwas Nahrhaftem. Wann immer er konnte, stahl er sich etwas zu essen und einen Schluck Wasser, immer in der Gefahr, erwischt zu werden. Als er schließlich, nach einer scheinbar ewigen Fahrt, das Schiff verließ, raubte ihm die Hitze schier den Atem. Es war ihm egal, dass der Captain ihn vielleicht sehen könnte, wenn er die Viva Colonia am helllichten Tage verließ, aber wenn er sich noch länger bei den Fässern und Kisten versteckte, würde er womöglich nicht mehr fliehen können. Denn spätestens, wenn die Besatzung die Ware ausladen musste, würde man ihn entdecken. Daher beeilte sich der junge Franziskus, den Hafen hinter sich zu lassen und eilte mitten hinein in sein neues Leben – wo er direkt in die Arme eines weiteren Seemanns stolperte. Jack Barron, Captain der Holy Devil , war gerade auf dem Weg zurück zu seinem Schiff, als Franziskus ihn im wahrsten Sinne des Wortes umrannte. Bei ihm war ein zehnjähriges, kleines Mädchen, das den Jungen frech anstarrte und ihm die Zunge rausstreckte, als dieser es ansah.
‚Der sieht nicht aus wie einer von uns, Captain‘, sagte sie und musterte ihn, als wäre er etwas zu essen. ‚Zu blass, viel zu blass.‘
‚Du hast Recht, Kim‘, erwiderte der Mann und half dem Jungen auf die Beine. ‚Wo kommst du her, Junge?‘
‚Coellen‘, antwortete Franziskus, noch immer fasziniert von dem schwarzhaarigen Mädchen, das anscheinend auf einem Schiff lebte. Wie toll musste es sein, auf der See aufgewachsen zu sein und all seine Sorgen einfach im Meer versenken zu können?
‚Coellen? Ein bisschen weit weg von zu Hause, findest du nicht?‘
‚Es ist nicht mein zu Hause. Das war es nie…‘
‚Wie bist du hergekommen? Geschwommen?‘ Der Captain lachte und auch das Mädchen verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen.
‚Ich … ich hab mich auf ein Schiff geschlichen, nachdem ich aus dem Kloster ausgebrochen war.‘ Er biss sich auf die Zunge, weil er befürchtete, zu viel gesagt zu haben, aber anscheinend war es genau das Richtige.
‚Ein entflohener blinder Passagier?‘ Der Captain rieb sich den Kinnbart und sah das Mädchen an. ‚Was meinst du? Er hat Potenzial, oder?‘
Die Kleine nickte, zögerte einen Moment und reichte Franziskus dann die Hand. ‚Willkommen an Bord, Kleiner.‘
‚An … was? Was soll das heißen?‘
Der Mann grinste und klopfte ihm auf die Schulter, als er aufgestanden war. ‚Das soll heißen, dass ich dir ein Leben auf meinem Schiff anbiete, wenn du das möchtest. Es wäre allemal besser, als obdachlos durch Jamaica zu irren.‘
Franziskus dachte nicht lange über das Angebot nach, denn der Mann erschien nett und konnte kein schlimmer Captain sein, wenn sich ein Kind an Bord befand, noch dazu wusste er ohnehin nicht, wohin er gehen sollte. Auf dem Schiff anzuheuern bedeutete, etwas zu essen zu haben, und einen eigenen Schlafplatz.
‚Also, wie sieht’s aus, Kleiner?‘
‚Ich bin dabei‘, erwiderte Franziskus, froh, etwas gefunden zu haben, wo er glücklich werden konnte.
Captain Barron führte ihn zur Holy Devil und stellte ihn der Crew vor. Dass es sich um Piraten handelte, hätte er sich denken können, und trotzdem war es im ersten Moment ein Schock für ihn. Ein Abend mit der ganzen Besatzung nahm ihm seine Angst, indem er sie kennenlernte, seine Geschichte erzählte und das Gefühl vermittelt bekam, wirklich willkommen zu sein.
Und seit jenem Tag, an dem er in Frankie umgetauft wurde, hat er nicht ein Mal daran gedacht, ein anderes Leben zu leben.“
Kimberly schwieg, ein leises Lächeln auf dem Gesicht und die Augen noch immer geschlossen. Sie hatte diese Geschichte schon oft gehört und immer noch hinterließ sie ein warmes Gefühl in ihrer Brust.
„Hat es dir geholfen?“, fragte Frankie schließlich und wandte den Kopf zu ihr. Aus seinem Blick sprach Sorge.
„Sie hat mir einmal mehr gezeigt, dass es, wie ausweglos alles auch erscheint, ein glückliches Ende geben kann.“ Kimberly lächelte traurig und kämpfte die Tränen zurück, als Gavins Bild vor ihren Augen aufstieg.
„Willst du darüber reden?“ Frankie lachte leise, als er ihr verblüfftes Gesicht sah, aber es war eine überschattete Fröhlichkeit. „Ja, ich bin ein Mann und ja, ich bin ein Pirat. Und ich kann trotzdem zuhören.“
„Weißt du, was ich mir am wenigsten verzeihen kann?“
„Es war nicht deine Schuld. Es hätte genauso gut dich treffen können, Kim. Und keiner hat damit gerechnet, dass so etwas passiert. Captain Barron dachte, ihr wärt sicher. Sonst hätte er euch doch niemals geschickt.“
Sie schnaubte. „Ach, wirklich? Da habe ich ganz andere Dinge gehört.“
„Wie meinst du das?“
„Vergiss es.“ Sie zuckte mit den Achseln und sah stur nach unten, sie wollte nicht an Albert denken und an das, was er gesagt hatte.
„Kopf hoch, Kim.“ Er hob ihr Kinn mit seinen rauen Fingern an und grinste wieder. „Du kannst kein Schiff segeln, wenn du auf die Planken starrst.“
„Wie … was?“ Sie war viel zu überrascht, um einen klaren Satz zu formulieren, ihre Gedanken rasten. War das ein Trick?
„Captain Barron will, dass du das Steuer übernimmst. Nur kurz, aber immerhin.“ Seine blauen Augen blitzten vor Neid und gleichzeitig Stolz, denn es war ein Privileg, dass der Captain jemand anderen als seinen Steuermann Finn ans Steuerrad ließ. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er es bisher jemandem erlaubt hatte.
„Warum macht er das?“, fragte sie dennoch. „Wo ist der Haken?“
Frankie lachte. „Meine Liebe, du bist zu misstrauisch. Es gibt keinen. Der Captain will dich einfach aufmuntern und ablenken. Vielleicht hat er auch ein schlechtes Gewissen.“
„Aufmuntern? Seit wann interessiert er sich für mich?“
„Meine Güte, Kim. Genieß es doch einfach. Die Gelegenheit bekommst du nie wieder. Kein anderer würde eine Frau ein Schiff steuern lassen!“
„Genau deshalb frage ich ja. Es bringt Unglück, eine Frau ans Steuer zu lassen. Also was soll das?“
„Vielleicht denkt dein Onkel einfach, dass du Manns genug bist? Los jetzt“, gab Frankie zurück und schüttelte seine Rasterlocken aus. Der kleine goldene Ohrring in seinem linken Ohr blitzte im Sonnenlicht auf und strahlte mit seinem Grinsen um die Wette.
Kimberly nickte zögerlich und schaute in die untergehende Sonne, die sich in einen glutroten Feuerball verwandelte, der langsam im Meer versank. Es müsste zischen und dampfen, aber nichts dergleichen geschah – natürlich nicht.
Es war einmalig gewesen, die Macht über etwas so Großes wie ein Schiff in den Händen zu halten, aber es war auch beklemmend gewesen und hatte Kimberly die Verantwortung spüren lassen, die dabei auf ihren Schultern lastete. Verantwortung für die Unversehrtheit eines Schiffes und für eine Crew, die sich auf sie verließ. Es wäre noch aufregender gewesen, wenn Finn bei ihrem Anblick nicht verächtlich geschnaubt hätte.
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