1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Nun ist nur noch ein Küken übrig, stichelte die Stimme. Das ist deine Schuld. Du hast den Stein geholt. Wegen dir sterben Menschen. Menschen, die dir etwas bedeuten.
Dicke, salzige Tränen quollen aus ihren Augen, vermischten sich mit dem Staub, den ihre Füße aufwirbelten, und dem Schmutz auf ihrem Gesicht zu einer klebrigen, feuchten Masse. Sie merkte kaum, wenn sie jemanden anrempelte, die verärgerten Rufe drangen gar nicht bis zu ihr durch. Manchmal glaubte sie, dass Hände nach ihr grabschten, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
Es ist deine Schuld! Du hättest ihn retten können. Hättest etwas tun können, damit er jetzt neben dir läuft. Deine Schuld, deine Schuld, deine Schuld!
„Nein!“ Ihr Schrei war so voller Schmerz, dass sich die Leute verwirrt zu ihr umdrehten und vor ihr zurückwichen, als sei sie eine Wahnsinnige. Entgegen ihrer Vernunft hoffte sie, dass ihre eigene Stimme die böse, flüsternde in ihrem Kopf zum Verstummen bringen würde.
„Ich … ich konnte nichts tun“, schluchzte sie, würgte die Worte wie etwas hervor, an dem sie zu ersticken drohte. Kimberly stolperte, fing den Sturz mit den Händen ab und blieb im Schmutz liegen, keuchend und zitternd. Ihr Burstkorb hob und senkte sich hektisch und unregelmäßig.
Lüge, Lüge, Lüge.
„Was hätte ich denn machen sollen?“ Sie zog die Knie an, schlang die Arme darum und bettete ihren Kopf hinein, bis die staubige Dunkelheit ihr Gesicht einhüllte.
Der Sprung war gefährlich. Ihr habt euch ihnen ausgeliefert. Eine freie Schussbahn.
„Es war die einzige Möglichkeit. Wir mussten fliehen!“
Ihr hättet gleich am Boden bleiben sollen. Ihr hättet weglaufen können, du hast gesehen, wie langsam sie waren.
„Sei still“, flüsterte Kimberly und schüttelte den Kopf, als könnte sie die Stimme ihrer Schuldgefühle so los werden.
Gavin ist tot. Deinetwegen.
„ Sei doch endlich still!“ Ihre eben noch zittrige Stimme fegte nun wie ein wütender Geisterwolf durch die Gassen, erfüllte die Luft und ließ die Möwen kreischend die Flucht ergreifen.
Sie konnte die brennenden Blicke der anderen Menschen spüren, hörte sie flüstern und tuscheln.
Und ganz in ihrer Nähe hörte sie ein Schlurfen. Ein Klicken.
Kimberly sprang auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und rannte weiter, folgte dem Geräusch der Brandung zum Hafen, wo die Holy Devil auf sie wartete. Auf sie und Gavin und das Buch.
Das Buch. Barron würde es nicht von ihr bekommen, noch nicht. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Vielleicht war es auch seine Schuld, dass Gavin tot war, er hatte sie schließlich auf diese Mission geschickt, obwohl er wusste, was vor sich ging. Obwohl Gavin durch seine Verletzung geschwächt war.
Kimberly schob all die Gedanken beiseite, die sie erneut mit einer Woge aus Trauer überrollen wollten, sah sich nach den Marionetten-Männern um und lief ein wenig schneller, als sie einen von ihnen entdeckte. Sie durften das Schiff nicht erreichen, nicht vor ihr.
Und wenn sie schon dort waren und auf sie warteten?
Ihre Schritte wurden langsamer, aber etwas hielt sie davon ab, stehen zu bleiben.
Du kannst nicht weglaufen, Kim. Das hat keinen Sinn. Und du willst es auch gar nicht. Du willst Rache.
Kimberly straffte die Schultern, schob das Buch in die Tasche ihrer hellen Wollhose, wo man es hoffentlich nicht sofort entdecken würde, und eilte den Steg entlang. Die eingeholten Segel der Holy Devil kräuselten sich in einer sanften Brise.
Auf dem Schiff war es ruhig, das Deck war verlassen und still, nur ein Putzeimer stand noch neben dem Hauptmast. Am Himmel kreiste eine Möwe, auf der Suche nach etwas zu Fressen im trüben Wasser.
Unten klapperte es, Edward, der Smutje, schien seine Vorräte in der Siedlung aufgefüllt zu haben und sortierte sie nun in der kleinen Speisekammer. Außer gepökeltem Fleisch, billigem Rum, Wasser und Zwieback gab es dort selten etwas besonders Schmackhaftes. Nach gelungenen Plünderungen leisteten sie sich manchmal frisches Fleisch oder Obst, aber die Tage, an denen das geschah, waren rar. Kimberly störte es nicht, sie war daran gewöhnt, und wenn sich die Gelegenheit bot, stahl sie sich Obst auf Märkten, wenn die Holy Devil in einem Hafen anlegte.
Heute war es anders. Heute hatte sie kein Essen, sondern ein Buch gestohlen und heute kehrte sie nicht zufrieden grinsend zurück. Heute kam sie mit Trauer und Misstrauen zurück an Bord.
Die Tür zu Barrons Kapitänsquartier war geschlossen, aber dahinter hörte sie leise Stimmen und das Schaben eines Stuhls über Holz. Bader Samuel war vermutlich bei ihm und sie dachte einen Moment lang darüber nach, das Ohr an die Tür zu legen und ihren Stimmen zu lauschen. Wenn sie über den Stein und den Dämon sprachen, könnte sie so vielleicht etwas herausfinden, was sie ihr verschwiegen.
Die Erkenntnis, dass sie ihrer Mannschaft schon so sehr misstraute, war ein heftiger Stich ins Herz und für einen Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als die Zeit zurückzudrehen, um alles wieder so werden zu lassen, wie es einmal war. Sie wollte wieder in dem Glauben leben, alles zu wissen, was sie wissen musste, wollte mit der Gewissheit leben, dass ihr Leben gut war und es ihr an nichts fehlte.
Kimberly schloss für einen Augenblick die Augen, ließ die Sonne nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihr Herz erwärmen, füllte es an mit dem Glück der vergangenen Zeit. Doch je lauter sie Barrons Stimme hörte, desto mehr zerbröckelte dieses zarte Gebilde und fiel schließlich ganz in sich zusammen. Ließ sie allein zurück, ertrinkend in Trauer und Schmerz und Wut, ohne etwas Gutes, an das sie sich klammern konnte. Außer dem Gedanken, dass Albert gelogen hatte. Dass er ihre Eltern nicht kannte, dass er nicht wissen konnte, ob Barron sie angelogen hatte. Dass er ihren Namen kannte, verdrängte sie krampfhaft.
Nichts war mehr, wie sie es kannte, alles hatte sich verändert, alles, alles, alles. Barron traf Entscheidungen, die er früher nicht getroffen hätte und die sie das Leben hätten kosten können. War er von seiner Gier so geblendet? Wollte er diese geheimnisvolle Macht so unbedingt nutzen, dass ihm alles andere egal war?
Sie vertraute ihrer Crew nicht mehr, fürchtete, der Dämon könnte in jeden von ihnen fahren, um sie zu töten.
Gavin war bereits tot.
Tot.
Immer wieder flackerten die Bilder durch ihren Kopf, umschwirrten ihre Gedanken, ließen sie nicht mehr los. Und zwischendrin das verschwommene, unscharfe Bild einer Fratze, die sie angrinste.
„ Der Captain und seine Crew sind verloren“, höhnte sie mit der gleichen Stimme wie die Marionetten-Männer, bevor sie sich auflöste und zu schwarzem Nebel zerstob. Kimberly wollte sie packen und zerschmettern, wollte ihr die Kehle aufschlitzen und sie über die Planke gehen lassen. Sie wollte sie leiden sehen, so wie sie leiden musste, weil Gavin fort war. Fort. Für immer.
Die Tür der Kapitänskajüte öffnete sich knarzend und Barrons schwere Stiefel polterten bei jedem Schritt auf Deck. Er blieb mitten im Schritt stehen, nickte Samuel kurz zu, als dieser an ihm vorbeiging, und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf Kimberly. Schmutzige, meerblaue Augen forschten in ihren. „Was ist passiert?“
Etwas in seinem Blick beunruhigte sie, aber es war nichts Bedrohliches sondern vielmehr tiefes Mitleid, Sorge und die Suche nach Verständnis. Erst jetzt bemerkte Kimberly, dass sie wieder geweint hatte; die Tränen trockneten rasch in der Nachmittagssonne und hinterließen feine Salzlinien, die ein bizarres Muster in ihre schmutzige Haut malten.
Sie holte tief Luft, denn sie traute ihrer Stimme noch nicht ganz, fürchtete, sie könnte von der Trauer fortgespült werden, wenn sie es aussprach. Dass Gavin…
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