Kimberly sah sich auf den Tischen um, die den Raum verstellten, und vollgestellt mit allem möglichen Krempel waren. Krüge, Tücher, Schmuck, Kräutersäckchen, Kerzen, Spiegel. Bloß keine Bücher.
„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, flüsterte Kimberly und warf einen Blick in einen kleinen Spiegel mit goldenem Rahmen. Eine müde junge Frau blickte ihr entgegen und sie sah hastig wieder weg.
„Ja, ganz sicher“, entgegnete Gavin und stupste einen tiefhängenden, ausgestopften Vogel an, der ihm im Weg hing.
„Es sieht aber nicht so aus, als ob wir hier ein kostbares Buch finden würden. Als ob wir hier überhaupt ein Buch finden würden.“
„Es muss hier sein. Wenn es nicht hier ist, existiert es nicht mehr.“
„Vielleicht gab es nie eins. Vielleicht ist dieser Auftrag völlig sinnlos. Und wo ist hier überhaupt die Besitzerin?“
„Doch, es gibt eins. Ganz sicher. Und es ist hier. Es muss hier sein.“
„Hallo?“, rief Kimberly. „Ist hier jemand?“
In einer Ecke raschelte und klimperte ein Perlenvorhang aus bunten Glaskugeln und eine ältere, grimmig dreinblickende Frau kam zu ihnen. „Ja?“, brummte sie. Die grauen Haare waren hochgesteckt und in ihrem Mundwinkel hing eine Zigarre.
„Wir suchen ein Buch.“
Die Frau lachte ein trockenes Lachen, das rasch in einen heftigen Hustenanfall überging. „Ein Buch? Was wollen kleene Kinder wie ihr mit ‘nem Buch? Ihr könnt bestimmt nich‘ einmal lesen.“
„Und Sie, können Sie lesen?“
Die Frau entblößte ein schwarzes Gebiss, als sie breit grinste. „Natürlich. Wie sollte ich sonst meine Zaubersprüche aufsagen, um kleene Kröten wie euch zu verhexen?“
„Wir suchen ein Buch über Steine“, entgegnete Kimberly ungerührt und tastete nach dem Säbel an ihrer Hüfte.
„Wer interessiert sich schon für Steine?“ Sie lachte rau. Es klang nach zu viel Rauch. „Alles nur nutzlose, dreckige Dinger. Kann man sich nichts von kaufen.“
Kimberlys Lächeln wurde eine Spur verschlagener, einen Hauch weniger lieblich. „Und was ist mit dem Stein von Anór? Ich habe gehört, der soll kein nutzloses, dreckiges Ding sein. Er sieht sogar recht schön aus. Haben Sie denn ein Buch über ihn ?“
Die Frau zuckte zusammen, räusperte sich dann und paffte weiter an ihrer Zigarre. „Dummes Kind. Das is‘ ‘ne Legende. Darüber gibt’s keene Bücher.“
„Sind Sie die Besitzerin hier?“
Wieder das raue, röchelnde Lachen, das mehr einem Husten glich. „Seh‘ ich so aus? Nein, nein, Albert is‘ nich‘ hier.“
In dem Moment hörte man weiter hinten im Laden ein Rumpeln, hinter dem Vorhang, vor dem die Frau stand.
„Rattenprobleme?“, fragte Kimberly und blinzelte unschuldig.
„Bestimmt nich‘. Hier gibt’s keene Ratten, nich‘ bei uns.“
„Dann wird es wohl dieser Albert sein. Darf ich?“ Sie wollte sich an der Frau vorbeiquetschen, aber die stellte sich ihr in den Weg. Körperhitze und Schweißgeruch schlugen Kimberly entgegen.
„Vergiss es, Kleene.“
Kimberly verdrehte die Augen. „Jetzt reicht’s aber.“ Klirrend erschien der Säbel in ihrer Hand und richtete sich auf die Kehle der alten Frau. „Darf ich jetzt ? Bitte ?“
Die Frau kniff die Augen zusammen, murrte etwas vor sich hin und gab dann den Weg frei. Kimberly drängte an ihr vorbei und steuerte auf die kleine, schief eingehängte Tür im Flur hinter dem Perlenvorhang zu. Quietschend schwang sie auf, als sie mit dem Fuß gegen das splitternde Holz trat.
Albert war ein stämmiger, bärtiger Kerl, der gerade einen Schluck Bier trank, als die beiden Piraten den Raum beraten. Verblüfft riss er die Augen auf, verschluckte sich und spuckte die Flüssigkeit zurück in den Krug. Kimberly verzog das Gesicht. Es stank im ganzen Zimmer nach schalem Bier und Qualm.
„Kimberly!“, rief er erstaunt aus, als er wieder sprechen konnte, und wischte sich mit einem fleckigen Tuch über den Mund.
Sie zog eine Augenbraue in die Höhe und sah aus dem Augenwinkel, wie Gavin ihr einen überraschten Blick zuwarf. Er kannte den Mann auch nicht. „Sollte ich Sie kennen?“
„Meine Güte, Kimberly. Wie groß du geworden bist. Und wie hübsch. Du bist deiner Mutter wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten. Wie lange ist das jetzt her? Ich habe ich dich schon gekannt, als du noch ein kleines, schreiendes Baby warst. Als deine Eltern …“
„Sie meinen, als sie noch lebten?“, unterbrach sie ihn kühl. „Als mein Vater noch nicht mit einer Kugel in der Brust begraben worden und meine Mutter noch nicht zu einem Haufen Asche zerfallen war? Wer sind Sie, dass Sie es wagen, von ihnen zu sprechen?“
Gavin kam einen Schritt näher und hob die Hand, um sie zu berühren, zu beruhigen, ließ es dann aber doch bleiben.
„Mein Name ist Albert. Und eigentlich habe ich gedacht, du wüsstest das. Hat Barron dir das erzählt? Das mit deinen Eltern?“ Er lachte kopfschüttelnd. „Dein Vater erschossen und deine Mutter verbrannt? Nein, Schätzchen. Das ist bestimmt nicht passiert. Barron war schon immer ein guter Lügner. Hach ja, der gute alte Jack…“
„Sie kennen Captain Barron?“, fragte Gavin.
„Natürlich, schließlich ist er …“ Albert hielt inne und biss sich auf die Lippe.
„Was ist er?“
Albert zögerte einen winzigen Moment zu lange und spuckte die Antwort dann viel zu hastig hervor. „Er ist der beste Pirat aller Zeiten. Jeder hat von ihm gehört.“
Kimberly trat noch einen Schritt näher, stieß beinahe mit der Hüfte gegen den Tisch, hinter dem Albert stand und der ihn von ihr trennte. Ihre Hand ruhte auf dem Griff ihres Säbels. „Sie lügen.“
„Ist er das etwa nicht mehr?“
„Sie wissen etwas über meine Eltern und ich werde herausfinden, was es ist. Wenn sich aber herausstellt, dass Sie mich angelogen haben, komme ich wieder. Und dann wird es kein nettes, kleines Wiedersehen mehr sein.“
„Das wirst du. Da bin ich mir sicher“, erwiderte Albert und lächelte sie an, als wäre er unglaublich stolz auf sie.
Kimberly zögerte, wich vor Überraschung über diesen Ausdruck einen Schritt zurück und wollte sich zum Gehen umwenden, aber Gavin schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf.
„Das Buch“, wisperte er.
„Wir werden nicht gehen, bevor Sie uns nicht gegeben haben, weshalb wir hergekommen sind.“
„Und was wäre das?“
„Ein Buch.“
Ein Schmunzeln erschien in Alberts Gesicht, er presste die Lippen zusammen, um nicht laut zu lachen. „Da könntest du Glück haben. Vielleicht habe ich draußen irgendwo eines liegen.“
„Wir wollen nicht irgendeines. Wir wollen das über den Stein von Anór.“
Ein Schatten huschte über seine Augen, das Lächeln und die rötliche Farbe, die das Bier verursacht hatten, wichen gleichzeitig aus seinem Gesicht. „Dann ist es also soweit? Barron hat ihn gefunden? Wenn das mal gut geht. Wegen ihr bringt er uns alle in große Gefahr.“
„Wovon sprichst du, alter Mann? Wer ist sie ?“
Albert schüttelte bloß den Kopf und kramte in seinem Schreibtisch herum. „Wenn er es dir nicht gesagt hat, sollst du es nicht von mir erfahren. Er wird es dir erzählen, wenn die Zeit reif ist.“
Gavin kam noch einen Schritt näher. „Geht es um die Macht des Steins?“
„Ja, meine Lieben.“ Er seufzte. „Es ging nie um etwas anderes.“
„Was hat Barron damit vor?“
„Ich fürchte, das müsst ihr selbst herausfinden. Ich bin mir nicht sicher und will euch nicht belügen. In deinem Leben gibt es schon zu vielen Lügen, Kimberly.“
Vor ihm lag nun ein kleines, verstaubtes Buch, das nicht größer als Kimberlys aufgefächerte Hand war. Das Leder war fleckig und an den Ecken eingerissen und geknickt.
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