Sie nahm es Captain Barron nicht wirklich übel, dass er sie auf die Insel geschickt hatte. Sie war die Schnellste von ihnen, die Wendigste. Und vermutlich auch die Cleverste. Die anderen hätten der Versuchung nicht widerstanden, sie hätten die Kammer geplündert ohne an den Stein zu denken, hätten vor Gier ihren Auftrag vergessen.
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür der Kajüte riss sie vorerst aus ihren Erinnerungen. „Darf ich reinkommen?“
Unwillkürlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Hey, Gavin. Klar, komm rein.“
„Na, bist du immer noch sauer auf den Captain?“ Er kannte ihr hitziges Gemüt und besuchte sie immer nach einer Auseinandersetzung – mit wem auch immer. So war das wohl, die zwei Küken an Bord mussten zusammenhalten. Auch, wenn sie mit zwanzig Jahren sicherlich keine Kinder mehr waren.
Kimberly seufzte theatralisch. „Ja, aber was will man machen? Wenn ich es jetzt auf einen Streit ankomme lasse, wirft er mich wahrscheinlich einfach über Bord.“
„Ach Blödsinn, so etwas würde Barron nie tun. Er ist ein guter Mann.“
„Er ist Pirat!“, erwiderte Kimberly lachend.
Gavin grinste. „Genau wie wir auch.“
Für einen Moment senkte sie den Kopf, schloss die Augen. Sie spürte eine leichte Übelkeit, ein flaues Gefühl in der Magengegend. „Ich hatte Angst. In der Höhle. Ich hatte wirklich Angst, sie nicht mehr lebend zu verlassen. Das war etwas anderes als sonst. Irgendetwas … ich war nicht allein dort. Da war noch etwas. Etwas Böses.“
„Aber jetzt bist du wieder hier, du bist in Sicherheit. Solange dich kein Pirat über Bord werfen will.“
„Und wenn ich das Böse mitgebracht habe?“ Kimberly lachte nicht über seinen Witz, sondern legte stattdessen die Stirn in Falten.
„Hör zu, Kim. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können es nicht mehr rückgängig machen. Aber was noch kommt, das ist allein unsere Entscheidung, denn wir sind verantwortlich für das, was wir tun und tun werden.“ Er lächelte, aber es sah nicht mehr echt aus.
„Was ist los? Nervt dich deine eigene Philosophie?“
„Vielleicht hast du recht.“
Kimberly legte den Kopf schief. „Was meinst du?“
„Unser freier Wille. Es ist nicht immer unsere Entscheidung. Es gibt jemanden – oder etwas – der die Macht hat, uns zu kontrollieren. Noch ist es nicht soweit, aber ich fürchte, es wird bald soweit sein. Wir müssen Barron helfen, sonst ist er bald nur noch eine Marionette.“
„Wovon redest du? Ich verstehe kein Wort.“
Gavin seufzte und strich sich eine verschwitzte Strähne seines rötlichen Haares aus dem Gesicht. „Es ist eine alte Geschichte. Ein dunkles Märchen. Wenn es wahr ist, schweben wir alle in großer Gefahr.“
„Das Böse …“
Er nickte. „Der Stein. Er ist es. Du hattest recht, da unten war etwas Böses. Und vermutlich hast du es wirklich mit an Bord gebracht.“
Kimberly setzte sich gerader hin, verschränkte die Arme vor der Brust. „Nimmst du mich auf den Arm?“
„Du weißt, dass ich das nur zu gern tue, aber … nein. Dieses Mal nicht.“
Kimberly suchte in seinen Augen nach einer Lüge, einem Schmunzeln, doch da war nichts. Er meinte es tatsächlich ernst. „Woher weißt du das alles?“
„Es gibt Gerüchte an Bord.“ Gavin zuckte mit den Achseln. „Man schnappt in der Kombüse so einiges auf. Und Sam ist besorgt. Er weiß nichts Genaues, nur, dass der Stein aus einem guten Grund in dieser Höhle versteckt war. Es soll so etwas wie ein magisches Gefängnis sein. Sagt man zumindest. Ich glaube, dass ich früher schon einmal etwas Ähnliches gehört habe. Vor meiner Zeit auf der Devil. Eine schaurige Gutenachtgeschichte, die uns Kindern Angst machen sollte.“
„Ein magisches Gefängnis? Machst du dich über mich lustig?“
„Du hast gefragt und ich antworte.“ Gavin verschränkte die Arme vor der Brust.
Sie seufzte. „Na schön, rede weiter.“
„Ich habe Geschichten gehört, dass die Höhle etwas bewachen soll. Etwas Böses, das man nicht befreien darf. Ich wollte dem Captsin davon erzählen, aber… Na, ich kann mir denken, wie er reagiert hätte.“
Kimberly legte den Kopf schief und dachte nach. „Weißt du, dass ich mich nie gefragt habe, was er damit vorhat? Jetzt mal ehrlich, was will er mit einem Stück Stein? Schön, er ist hell und hübsch, aber ich wusste nicht, dass unser Captain auf Solche Dinge achtet.“
„Man sagt ihm magische Kräfte nach. Frag mich nicht, welche, das kann ich dir nicht sagen. Vielleicht will er sein Schiff ausrüsten? Einen zweiten fliegenden Holländer vielleicht?“ Er grinste spöttisch.
„Das ist doch vollkommen verrückt“, murmelte Kimberly. Ein plötzliches Schwindelgefühl erfüllte sie, sie streckte automatisch die Hand nach der Kajütenwand aus und die Übelkeit wurde heftiger. Sie war doch noch nie seekrank geworden. „Es wäre mir wesentlich lieber gewesen, wenn du mich einfach ausgelacht hättest.“
„Der Stein von Anór ist der Vorbote des Unglücks. Durch ihn hat das Böse Macht über diejenigen, die ihn besitzen. So sagt man zumindest.“
„Warum habe ich davon nie etwas gehört? Und vor allem, warum sollten wir so etwas an Board holen? Das ist doch … furchtbar“, murmelte Kimberly und presste die Hand gegen die Schläfe, wollte den Schmerz aus ihrem Kopf drücken.
„Du solltest eben öfter in die Kombüse kommen. Aber ja, es ist wirklich furchtbar. Wenn wir den Stein nicht dorthin zurück bringen, wo ihn die Götter bewachen, dann … es wird böse enden. Für uns alle.“
„Jetzt auch noch Götter? Das klingt wahnsinnig.“
„Es ist Wahnsinn“, gab Gavin zurück. „Aber deshalb ist es nicht weniger wahr. Ich hätte nie gedacht, dass der Captain daran glaubt. Ich hätte nie gedacht, dass er so weit gehen würde. Ich weiß nicht einmal, warum er es tut. Ich kann dir nur sagen, was ich aus den Geschichten weiß, was meine Familie mir früher erzählt hat, und das gefällt mir nicht. Es kann alles Seemannsgarn sein. Genauso gut kann es wahr sein. Du hast selbst gesagt, du hast etwas gespürt. Vielleicht hast du recht.“
Kimberly wollte etwas erwidern, doch sie spürte mit einem Mal einen kochenden, brodelnden Hass in sich aufsteigen, der alle anderen Gefühle in den Hintergrund drängte. Sie spürte die Hitze in ihrem Körper empor kriechen, schmeckte den bitteren Geschmack der Wut auf ihrer Zunge.
Da war ein Schmerz in ihrem Inneren, ihrem Herzen, ihrer Seele. Etwas versuchte, sie zu verdrängen, sie aus ihrem Körper zu stoßen. Etwas, das sie mit heißer, feuriger Wut erfüllte, das ihre Sicht mit roten Rändern trübte. Sie keuchte, würgte. Ihr Magen zog sich zusammen, glühende Krallen gruben sich in ihre Eingeweide.
Und dann war es vorbei. Der Schmerz, das Etwas, zog sich zurück, verließ sie wieder, als hätte es sich verbrannt. Sie glaubte, ein Zischen zu hören, ein böses Wispern und Flüstern. Vor ihren Augen wurde es schwarz. Für einen Moment war da nichts als Leere, bevor ihre Sinne langsam wiederkehrten.
„Kim? Kim! Was ist passiert?“ Gavin beugte sich über sie, drückte ihre Hand. „Du bist ja ganz blass.“
Die Welt war noch leicht verschwommen, ihre Seele brauchte einen Moment, sich wieder in ihrem Körper zurechtzufinden, alle Sinne wieder in Besitz zu nehmen. „Ich …“ Ihre Stimme war rau, heiser. „Ich weiß nicht. Es war als … da war jemand. Etwas. In meinem Körper.“
Gavin riss die Augen auf. „Es ist schon da. Das Böse. Es fängt an.“
„Ach nein, Blödsinn. Wahrscheinlich war das die Nachwirkung des Höhleneinsturzes, ich hab mir den Kopf gestoßen.“ Zumindest versuchte sie, sich das einzureden, aber sie wusste, wie sinnlos es war. Sie hatte es gespürt. Das Böse in der Höhle und den nicht greifbaren Fremdkörper in ihr.
Читать дальше