Wenn Fritze noch leben würde, wäre er jetzt etwa 100 Jahre alt, das wird wohl nicht geklappt haben. Ich muss jedoch noch manchmal an ihn denken, insbesondere wenn ich Gurken in meinem Garten anbaue. Diese werden mit Sicherheit keinen halben Meter lang sein. Ich werde jedoch nicht auf Fritzes Methode zurückgreifen.
Dann hatten wir einen Aufsichtsdienstleiter, den nannten sie „Ziegenlehmann“. Den Namen Lehmann gab es im Hause schon viermal, deshalb musste man ihn unterscheiden können. Warum aber „Ziegenlehmann“? Er wohnte bis Ende der fünfziger Jahre in einer Dienstwohnung vor der Anstalt mit einem kleinen Garten, in welchem er einen Stall mit zwei Ziegen hatte. Gegen Mittag habe er sich regelmäßig abgemeldet, um nach Hause zum Essen zu gehen. Es wurde dann beobachtet, dass er auf der an seinen Garten grenzenden Wiese seine Ziegen hütete.
Es gab noch viele andere Kollegen, die ihre Eigenheiten hatten, das blieb nicht aus. Die Einstellung zu den Gefangenen war zumeist kritisch und distanziert. Viele empfanden die Freiheitsstrafen oft als zu gering. Der größere Teil von ihnen war sogar für die Todesstrafe.
Es gab aber auch damals schon einige, die der Meinung waren, man müsse mehr Gespräche mit den Gefangenen führen und sie möglichst therapieren. Diese Bediensteten fanden bei ihren Kollegen nicht viel Zustimmung. Für die Entwicklung der Behandlung im Strafvollzug war diese Einstellung jedoch richtungsweisend.
In anderen Verwahrhäusern
So vergingen die Wochen und Monate im Verwahrhaus II. Ich hatte mich allmählich gut eingearbeitet und verstand mich auch mit den anderen Kollegen. Auch mit den Gefangenen, die wir allgemein als „Knackis“ bezeichneten, kam ich recht gut aus. Ich wurde durchaus akzeptiert, obwohl ich nicht übermäßig gutmütig zu ihnen war. Wenn sie Probleme hatten, konnte ich ihnen aber auch zuhören und war bereit, ihnen Ratschläge zu erteilen.
Im Frühsommer traf ich dann wieder jemanden, den ich kannte. Er hieß Lohmann und war beim „Labor Service“ in der Kompanie, in welcher ich 1960 und 1961 als Wachmann eingesetzt war, Mastersergeant, so etwas wie Spieß, gewesen. Er hielt sich immer für etwas Besonderes. Es war aber bekannt, dass er ziemlich viel Alkohol trank. Auch seine Frau trank angeblich ziemlich viel und es kam zwischen ihnen häufig zum Streit, insbesondere wenn Lohmann angetrunken nach Hause kam. Eines Tages kam es zur Katastrophe. Wieder einmal kam er alkoholisiert nach Hause und, wie er später erklärte, habe seine Frau im Bett gelegen und ihn beschimpft. Daraufhin wurde er so wütend, dass er mit seinem Taschenschirm auf sie einprügelte, bis sie sich nicht mehr rührte. Im Krankenhaus starb sie Tage später infolge der Verletzungen.
Lohmann wurde wegen Totschlags zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Im Haus II wurde er als Schreiber der Arbeitsverwaltung eingesetzt, worauf er sich offenbar viel einbildete. Zu mir sagte er: „Na, Sie haben ja noch gar keine Streifen auf der Schulter. Die Beförderung klappt hier wohl nicht!" Ich antwortete: „Dafür hatten Sie aber einen erstaunlichen Aufstieg zu verzeichnen!" Wir haben uns dann später nicht mehr viel unterhalten. Weil er nicht vorbestraft war, wurde er nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Strafe, also nach drei Jahren, auf Bewährung entlassen. Als die Sommerurlaubszeit begann, wurde ich für eine Woche als Vertretung im Verwahrhaus I im Frühdienst eingesetzt. Ich hatte das befürchtet und machte meinem Frust Luft, indem ich mich bei dem Vollzugsdienstleiter (Ziegenlehmann) beschwerte. Ich hatte gerade eine Station übernommen und war im Hause auch nicht mehr der dienstjüngste Bedienstete. Was bekam ich zu hören? „Sie sind ein tüchtiger Kollege für mich. Ich will nicht, dass ich blamiert werde, wenn ich jemanden hinschicke, der dort nicht klarkommt!" Tatsächlich erfuhr ich später, dass ein anderer Kollege, der schon Beamter war, nach zwei Tagen erkrankte, als er zum Haus I eingeteilt wurde. So meldete ich mich also am nächsten Morgen beim Vollzugsdienstleiter, Hauptverwalter Truske, einem älteren, riesigen, kräftigen Beamten, der dafür bekannt war, dass er gelegentlich undisziplinierte Gefangene mit beiden Händen an der Jacke packte, anhob und heftig schüttelte. Zu mir sagte er freundlich: „Kollege Lehmann hat gesagt, du bist ein guter Mann und warst schon Polizist. Da brauche ich mir ja keine Gedanken zu machen. Du übernimmst die Station B 1!" Diese war ganz unten. Um 6.30 Uhr schloss ich dann, wie alle anderen Bediensteten, die Zellen auf. Hier wurde sofort „gekübelt", indem die Fäkalienschüsseln, allgemein „Scheißeimer“ genannt, von den Insassen auf den Flur gestellt wurden. Danach eilten die Hausarbeiter auf beiden Seiten der Station herbei und trugen diese, jeweils vier Stück übereinander, in die Spülzelle, wobei sie die oberste Schüssel mit dem Kinn festhielten. In der Spülzelle wurden die Schüsseln in das riesige Abflussbecken ausgekippt, ganz kurz ausgespült und wieder vor die Zellen gestellt. Sofort entwickelte sich ein gewaltiger Gestank, so wie es mir der Kollege Höffker bei der Anstaltsführung detailliert beschrieben hatte. Ich bewegte mich auf der untersten Station etwas entfernt von den Zellentüren, um Abstand zu haben. Plötzlich rief der Hausarbeiter laut: „Vorsicht, Meister!" Er hatte mich gerettet. Auf der Station B 4 ganz oben, war einem Hausarbeiter der oberste Kübel über das Geländer in die Tiefe gefallen. Ich sehe das noch heute vor mir: Der Kübel fiel ins Netz, der Inhalt kippte aus und fiel ebenfalls ins Netz. Der Urin war zuerst unten, dann folgten die Festfäkalien, die aufs Netz fielen, dann auf dem Maschendraht langsam durchbrachen und anschließend mit einem klatschenden Geräusch auf dem Flur landeten. Das Toilettenpapier hing noch eine Stunde im Maschendraht, bis ein Hausarbeiter aufs Netz kroch und es entfernte.
Ich hatte nichts abbekommen. In einer Pause ging ich eine Schachtel Zigaretten ziehen, von der ich dann den Hausarbeitern jeweils zwei Zigaretten gab. So etwas hatte ich bis dahin noch nicht gemacht.
Für den Rest der Woche kam ich gut über die Runden. Mittags hatten mich die Hausarbeiter gebeten, sie in einer Zelle zusammenzuschließen, weil sie Skat spielen wollten. Auch das habe ich gestattet, was durchaus üblich war.
Nach sieben Tagen Frühdienst war ich zufrieden, wieder im Haus II zu sein. Ich bekam einen Tag frei und war dann wieder auf meiner Station 7 im Frühdienst. Dort angekommen fragte ich meine Hausarbeiter, ob es etwas Neues gebe. Man sagte mir, auf einer Dreimannzelle sei ein Zugang, der ein bisschen bekloppt sei. Er war ohne Arbeit und würde oft versuchen, beim Arbeitsaufschluss nach dem Mittagessen mit den beiden anderen arbeitenden Gefangenen die Zelle zu verlassen. Es war ein großer kräftiger Kerl, der aber etwas einfältig wirkte und beim Sprechen keinen vernünftigen Satz zu Stande brachte.
Tatsächlich versuchte sich dieser Gefangene beim Arbeitsausschluss hinauszudrängen. Ich schob ihn mit der Tür zurück, er hatte aber seinen Fuß zwischen Schwelle und Tür gestellt, sodass ich diese nicht schließen konnte. Ich sah nach rechts in Richtung Zentrale, in der Hoffnung, einen Kollegen um Hilfe rufen zu können. Plötzlich sagte jemand links von mir: „Ein’ Moment mal!" Ich dachte zuerst, es sei ein Kollege, der mir die Tür aus der Hand nahm, sie öffnete und den renitenten Häftling ergriff. Danach hörte ich ein klatschendes Geräusch und sah, wie der Insasse auf sein Bett fiel. Ich verschloss die Zelle und sah, dass mir ein Gefangener geholfen hatte. Dies war ein als Schläger bekannter Ex-Zuhälter, der Hausarbeiter beim Krankenrevier war. Er hatte eine Einzelzelle auf meiner Station. Er sagte nur: „Das macht der nicht noch einmal." Und er behielt Recht. Natürlich erwartete er von mir ab und zu einen kleinen Gefallen, zum Beispiel, dass er sich in den Nachmittagsstunden zuweilen auf eine andere Station begeben dürfe. Ich entsprach seinem Wunsch, wenn der betreffende Stationsbeamte damit einverstanden war.
Читать дальше