Klaus Weise - Sommerleithe

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Zwei kräftige Metzgerhände packen den sechsjährigen Jungen und hängen ihn, als sei es ein Spaß, an einen schwarzen Räucherspieß in den Fleischhimmel von Wurst und Schinken. Je länger er hängt, desto stärker wächst die Angst vor dem Absturz. Umrankt wird diese Geschichte von einer assoziativen, mit fast halluzinogenen Überlagerungen und mit harten Schnitten und Zeitsprüngen arbeitenden Wortbegehung. Die Familie flieht aus der DDR und macht sich mit großer Hoffnung im Herzen und noch größeren Fragezeichen auf den Schultern auf den Weg in den Westen, kämpft sich durch das Ungeheuer der ­U-Bahn, im Flieger durch einen Gewitterhimmel, durch das Aufnahmelager, durch fremde Dia­lekte und abweisende Städte hinein in den Wohlstand und die Verlogenheit der 60er Jahre mit lazy sunday afternoons und aufregenden Vormittagen. Im Grenzbereich zwischen Autobiographie und Schelmenroman erzählt dieser Text aus der Perspektive eines Kindes und Jugendlichen von den kleinen und großen Wirrungen einer Kindheit in den 50er und 60er Jahren.

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Klaus Weise

Sommerleithe

Roman

Sommerleithe - изображение 1

Inhalt

1. Poor boy, you’re bound to die

2. … das kommt vom Rudi-Ralala

3. Pari Banu

4. «Im Westen ist es kalt»

5. Frau Pavel

6. Renates Anfall

7. Die Tage (Those were the days, my friend)

8. Sud und Sühne

9. Der Vatersprachlose. Was ist, wenn nichts ist?

10. «Das Leben nennt der Derwisch eine Reise»

11. Schnappdeckel der Erinnerung

12. Blut und Blumen

13. … finden in der ganzen Welt ihre Käufer!

14. Zweites Königreich

15. Morning has broken

16. Angst im Himmel, ein kurzes Kapitel über das Töten und artfremde Axt

17. Wrigley’s

18. Die Scham, der Stolz und die rohe Leber

19. Each man kills the thing he loves oder: befriedigend –

20. Magic carpet ride und roter Wolf

21. Speaking in tongues

22. Das Glück

23. Lullumann in Russland

24. Chthonisch

25. Wohin (nicht) schauen

26. Wurstdecke und Nasengestrüpp

27. «Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint dort auch

28. «Und über buntre Felder noch, als hier …»

29. «… nur schade, dass das Auge modert, das diese Herrlichkeit erblicken soll»

30. «Die Liebe ist ein seltsames Spiel»

31. Fliegende Hunde, ja. Fliegende Teppiche, auch. Aber …

32. Bürgerliches Heldenleben

33. Glitzsch

34. Zweimal Sonne

35. Diamat

36. «Mädel, mach’s Ladel zu, ’s kommt e Zigeunerbu»

37. Kickerlingsberg

38. Juri Alexejewitsch Gagarin

39. Out of the blue, into the black

40. Gilt nur bedingt. Weil ein Ich (welches?) wie ein Kind bedenkt, wie es dächte, wenn es denken könnte, so aber nicht denken kann

41. Endlich – lange drauf gewartet

42. Teilweise Wiederholung. Kann überlesen werden

43. Bitte nicht überblättern. Neu!

44. Zuvor 24.

45. Erinnerungssuppe 2

46. Domsingschule

47. Gott und der Garten

48. Zu neuen Ufern

49. Nicht hart – und auch nicht Schluss

50. Zu noch neueren Ufern

51. Die Erinnerung

52. Vielleicht war alles auch völlig anders

53. «Schulen der Sprachlosigkeit»

54. Abschied

Fine ohne Ende

Über den Autor

Über dieses Buch

Impressum

Sommerleithe

Wortbegehung einer Kindheit diesseits und

jenseits der Zonengrenze

Eine Geschichte als wahr zu bezeichnen,

ist eine Beleidigung für Kunst und Wahrheit zugleich.

Vladimir Nabokov: Vorlesungen über westeuropäische Literatur

Wenn die Natur aus ist, das ist, wenn die Natur aus ist.

Wenn die Welt so finster wird,

daß man mit den Händen an ihr herumtappen muß,

daß man meint, sie verrinnt wie Spinneweb.

Das ist so, wenn etwas ist und doch nicht ist,

wenn alles dunkel ist und nur noch ein roter Schein im Westen,

wie von einer Esse. Wenn …

Die Schwämme … da, da steckt’s. Haben Sie schon gesehen,

in was für Figuren die Schwämme aus dem Boden wachsen?

Wer das lesen könnt.

Georg Büchner: Woyzeck

1.

Poor boy, you’re bound to die

Es begann mit einem Spaß. In einem weit zurückliegenden Damals.

Das Licht wurde ausgeknipst, zwei kräftige Männerhände packten mich, hoben mich nach oben unter die Decke, als wäre ich leicht wie eine Feder, und ich, reflexartig den Schwung ausnutzend, streckte meine Arme aus, umfasste einen schwarzen Räucherspieß, hielt mich fest – und hing im Himmel. In einem Himmel aus Schinken, Wurst und Speck.

Da hing ich nun. Wo niemand jemals vor mir hing. Ganz oben. Ich. Herrscher über ein riesiges Reich. Über den roten Wolf, über Kutter, Kühlhaus, Messer, Hackklotz, Wurstkessel und Räucherkammer, über alles und alle, die mir dienten, damit aus Schweinehälften und Rindervierteln, aus Kälbern, Färsen, Zicklein und Spanferkeln entstehe, was alle wollen und brauchen: etwas zu essen. Nein. Nicht etwas. Sondern Fleisch und Wurst. Und nicht irgendwelches Fleisch und irgendwelche Wurst, sondern das beste Fleisch und die beste Wurst weit und breit. In Lusan, in Gera und darüber hinaus. Ich war der König, der kleine König der elterlichen Metzgerei.

Innerhalb weniger Sekunden wurde ich aus der Welt, in der man mit den Füßen auf festem Boden steht, erhoben in eine andere Welt, eine Welt, in der der Körper schwebt, die Beine und die Füße baumeln und der Kopf auf faszinierende Art verwirrt und berauscht ist.

Und wenn der Boden unter mir auch nicht verschwunden ist, sondern nur sehr, sehr weit weg, erscheint es mir, als hinge ich, wenn nicht im Himmel, so doch zumindest im halben Himmel, im Metzgerhimmel als der Vorstufe zum Himmel.

Wer durfte, wer konnte das in meinem Alter schon erleben! Ich halte mich fest an einem Stock, schwarz wie Ebenholz. Doch nicht ängstlich, wie sich Erwachsene an der Haltestange unter dem Dach der Straßenbahn festhalten würden, wenn plötzlich unter ihren Füßen der lange Gang mit den vollbesetzten Sitzen verschwände, sich mit Fahrer und Schaffner in bedrohliche Tiefe entfernte, in die hinabzustürzen den sicheren Tod bedeutete.

Nein, ich hatte keine Angst, sondern war kraftvoll und stolz. Denn neben mir hingen keine verängstigten Fahrgäste einer Straßenbahn, sondern ihres Wertes und ihrer Würde sich bewusste und sich erhaben fühlende Würste, Schinken und Speckseiten. Sollten sie sich über meine unerwartete Anwesenheit, über das Eindringen eines Fremdlings in ihr Revier gewundert, geärgert oder gefreut haben, so ließen sie sich das, souverän wie sie waren, nicht ansehen und anmerken. Ich glaube, sie waren verwundert, denn noch nie hatte sich ein menschliches Wesen in ihr Reich gewagt. Außer eben ich. Jetzt. Um sie mit meiner Anwesenheit zu grüßen und ihre Anerkennung zu bekommen für mein mutiges Vordringen in ihr Fleischerreich. Meine Freude war riesig. Und ich glaube gespürt zu haben, dass man sie hier oben nach der ersten Verwunderung über meine unerwartete Tat durchaus mit mir teilte.

Tief zu meinen Füßen saßen keine Menschen im Abgrund einer Straßenbahn, sondern dort lag, wie ich ohne hinunterzublicken wusste, in mattem Glanz ein dunkler, einsamer und gnadenlos harter Steinfußboden, der meinen ganzen Mannesmut herausforderte. Denn so schnell die Arme mich gegriffen und in den Himmel gehievt hatten, so schnell senkten sie sich hinab und verschwanden im dunklen Licht der Abendstunde – statt zur Sicherheit neben mir zu verharren, um mich, sollten meine Finger abrutschen und ich in die Tiefe stürzen, aufzufangen, zu retten und auf sicheren Grund zu stellen. Und mit den Armen verschwanden auch die Körper und die lachenden Gesichter der beiden Männer in der Dunkelheit, die schon aus den Ecken kroch, während es draußen noch taghell war. Ich hörte die Tür ins Schloss fallen, hörte, wie der Schlüssel gedreht und das Schloss verriegelt wurde.

Dann war Stille. Ich lauschte in sie hinein – und hörte nichts. Der Raum lag in trägem Dämmerlicht und schwieg. Doch die Faszination, die Freude und der Stolz, hier oben hängen zu dürfen, wurden von der langsam sich ausbreitenden Finsternis geschluckt. Angst beschlich mich – und die Frage: Wie lange würde ich hier oben hängen können, ohne abzustürzen? Soeben noch ein über sich selbst hinauswachsender Abenteurer, war ich nun ein Gefangener, abgehängt im Gestänge einer Welt, die nicht für mich bestimmt war und die ich gerade deswegen neugierig hatte erobern wollen.

Ich war allein. Verlassen. Eingesperrt. Wo war meine Mutter? Auf sie konnte ich mich immer verlassen. Es brauchte keinen Anlass. Hatte ich etwas ausgefressen: Sie war für mich da. Wollte ich sie einfach nur umarmen und ihr einen Kuss geben: Sie war für mich da. Wo war sie, jetzt, als ich sie brauchte?

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