Am Sonnabendmorgen waren die sieben Nächte geschafft und wir hatten nun frei bis Montag um 14.15 Uhr, zu Beginn der sieben Spätdienstnachmittage.
Der Spätdienst lief auch nach vorgegebenen Regeln ab. Die arbeitenden Gefangenen in den Betrieben kamen schon kurz nach 15 Uhr zurück. Sie hatten regelmäßig nach Abzug der Mittagspause nur einen Sechs-Stunden-Arbeitstag. Andere hatten jedoch zum Teil längere Arbeitstage, wie beispielsweise die Küchenarbeiter, die Heizer und verschiedene Kalfaktoren, z. B. der beim Krankenrevier, bei der Zentrale und bei der Arbeitsverwaltung. Sie bekamen auch etwas mehr Entlohnung, heute Entgelt genannt.
Es bestand und besteht für alle Strafgefangenen damals wie heute Arbeitspflicht, damit sie auf die Zeit nach der Entlassung vorbereitet sind und etwas Geld zur Verfügung haben. Die Entlohnung damals betrug je nach Qualität der geleisteten Arbeit, etwa 0,80 – 2 DM am Tag. In einzelnen Fällen, bei besonders guten Leistungen oder Mehrarbeit, konnte es auch mehr sein.
Von der Entlohnung wurde eine Rücklage gebildet, die für die ersten vier Wochen nach der Entlassung als Überbrückungsgeld dienen sollte. Etwa zwei Drittel durften als Hausgeld für den Einkauf genutzt werden. Bei einer erreichten Entlohnung von 60 DM durfte der Gefangene für 40 DM einkaufen. Überwiegend wurde Tabak und Pulverkaffee gekauft und sofern möglich, noch Süßigkeiten. Der Einkauf wurde einmal monatlich in einem großen Raum im Verwahrhaus von einem Einzelhändler vorgenommen.
Gegen 16.30 Uhr wurde das Abendbrot verteilt. Es gab wieder Schwarzbrot, in Einzelfällen Weißbrot, Margarine, etwas Wurst oder Käse, manchmal auch Fleischsalat, eine Büchse Ölsardinen oder Heringsfilet. Bei Fischaustausch für Gefangene, die keinen Fisch mochten, gab es eine kleine Büchse Wurst. Auch wurde zweimal in der Woche Obst ausgegeben. Als Getränk gab es Kaffee, zuweilen wurde auch Tee ausgeschenkt. Gegen 17.30 Uhr wurde das Essbesteck aus den Zellen genommen und in die vorgesehenen Stofftaschen an der Zellenaußentür eingesteckt. Dann sagten wir gute Nacht, verschlossen die Tür zweimal und schoben den Riegel vor. Das war der Nachtverschluss. Um 22 Uhr wurde das Licht ausgeschaltet, indem an jeder Tür der Lichtschalter ausgeknipst werden musste. Normalerweise machte das noch der Spätdienst, jedoch konnte es auch sein, dass der Nachtdienst übernahm, wenn dieser schon etwas früher kam. Die offizielle Ablösung war 22.15 Uhr. Allgemein wurde das aber sehr locker gehandhabt, es kam immer auf die betreffenden Kollegen an. Wir hatten einen Bediensteten, ein Altgedienter, der kam prinzipiell erst um 22.15 Uhr oder nachmittags um 14.15 Uhr, obwohl er den kürzesten Weg hatte. Er wohnte nämlich in einer Beamtenwohnung direkt vor der Anstalt. Da war nichts zu machen. Der war ebenso.
Meine erste Spätdienstwoche ging gut vorbei, ohne wesentliche Störungen durch die Gefangenen. Allerdings blieb es nicht aus, dass wir bei zu lautstarken Aktivitäten in den Dreimannzellen oder durch die Fenster nach draußen einschreiten mussten. Wir gingen dann an die Zellentüren und ermahnten die Insassen zur Ruhe. Im Wiederholungsfall schlossen wir auch auf und drohten dem Betreffenden, dass er die Nacht im „Bunker", das heißt in der Absonderungszelle, verbringen müsse, wenn nicht sofort Ruhe eintrete. Das war allgemein sehr wirksam. Nach dem Spätdienst hatte ich zwei Tage frei und ging dann in den Zwischendienst. Danach hatte ich ein freies Wochenende und ging wieder in den Frühdienst. So wiederholte sich der Dienstplan, der für alle Bediensteten sichtbar in der Dienstzuteilung für jeweils einen Monat im Voraus ausgehängt wurde.
Der Dienstablauf im Strafvollzug bereite mir allgemein keine Schwierigkeiten. Auch nicht auf der neuen Station 7, die ich jetzt zumindest vorübergehend übernehmen musste. Als Neuling war das Stationswechseln ganz normal. Die dienstälteren Kollegen hatten ihre festen Stationen, die dann von den neuen zeitweise übernommen wurden, wenn sie in den Nacht- und Spätdienst gingen. Ich begann nun auch mein Umfeld, insbesondere bezogen auf die vielen Bediensteten in der Anstalt, genauer wahrzunehmen. Die Anstalt konnte man vergleichen mit einem großen Dorf oder einer Kleinstadt, zumindest von der Personenanzahl her. Wir hatten damals eine Belegung von mehr als 2000 Gefangenen und einen Personalstand von etwa 800 Bediensteten. Den größten Anteil hatte der Aufsichtsdienst, dann gab es noch den mittleren, gehobenen und höheren Verwaltungsdienst, den Werkdienst und den Krankenpflegedienst. Außerdem waren in einigen Werkbetrieben, zum Beispiel in den externen Firmen Osram und Universal, noch mehrere Fachleute tätig, die nicht zum Justizdienst gehörten. So gab es also etwa 3000 Personen, die in der Anstalt anwesend sein konnten. Die Altersstruktur im Aufsichtsdienst unseres Hauses II war so aufgebaut, dass der sogenannte Mittelbau, so zwischen 30 und 45 Jahren, relativ schwach besetzt war. Überwiegend waren Kollegen ab 50 oder unter 30 vertreten. Das Einstellungsmindestalter betrug damals 23 Jahre, das Maximalalter höchstens 40, in Sonderfällen auch 45, was aber eine Verbeamtung nicht mehr zuließ.
Natürlich hatten wir auch mehrere Kollegen, die Soldaten im Zweiten Weltkrieg waren. Einer jedoch hatte den Krieg als Aufseher im Zuchthaus Tegel verbracht, auch in den Bombennächten. Er erzählte uns neuen Bediensteten, insbesondere während des Nachtdienstes, auf Wunsch von seinen Erlebnissen während der Bombardements. Man konnte während der Bombardierung, insbesondere von 1944 bis 1945, davon ausgehen, dass den Piloten die Lagen der Strafanstalten bekannt waren und sie diese auch nicht mutwillig treffen wollten. So fühlten sich die Gefangenen und Bediensteten relativ sicher.
Einmal jedoch schlug eine Bombe im Zuchthaus ein, das konnte man noch lange an der helleren Färbung der Klinkersteine an einem Hausflügel erkennen. Es soll ganz furchtbar gewesen sein. Es kamen mehrere Gefangene in ihren Zellen ums Leben, weil sie ja unter Verschluss waren und nicht flüchten konnten. Die Bediensteten hätten dann zahlreiche Gefangene ausgeschlossen, weil auch die nicht getroffenen Zellen zum Teil sehr verqualmt waren. Das Haus sei erfüllt gewesen von schrecklichen Angst- und Schmerzensschreien. Es gab auch einige verletzte Bedienstete, jedoch keine Toten. Mehrere Gefangene hätten dann die Gelegenheit zur Flucht wahrgenommen.
Ehemaliger Soldat war auch der Kollege Fritze Klischureck, unverkennbar aus Ostpreußen. Er war sehr freundlich und hatte eine sehr harte rechte Hand, offensichtlich durch eine Verwundung. Fritze kam nicht umhin, bei Gesprächen über den Krieg die deutschen Soldaten ausdrücklich zu loben. Sie seien die besten der Welt gewesen. Er selbst war im Krieg Unteroffizier bei der Artillerie. Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft Ende 1946 habe er gleich im Aufsichtsdienst in Tegel anfangen können. Er hatte auch eine Dienstwohnung und neben der Anstalt einen kleinen Pachtgarten bekommen.
Fritze erzählte, es sei alles sehr knapp gewesen und die Aufseher seien regelmäßig an der Pforte kontrolliert worden, um Diebstähle von Lebensmitteln oder Kohlen zu verhindern. Die Anstalt habe damals unter Aufsicht der französischen Militärverwaltung gestanden und die soll sehr genau und streng gewesen sein. Das Erdreich in seinem Garten sei leider sehr unfruchtbar gewesen und er habe es unbedingt besser düngen wollen. Im Frühjahr 1947 habe er dann mehrmals von den Kalfaktoren im Haus I in zwei große Milchkannen Fäkalien einfüllen lassen, wenn morgens die Kübel aus den Zellen genommen und in der Spülzelle entleert wurden. Damit sei er unbeanstandet durch die Pforte gekommen, weil niemand die übelriechenden Milchkannen kontrollieren wollte. Ich weiß noch heute, wie er lachend vor mir stand, mit seinen Händen einen Abstand von etwa einem halben Meter anzeigte und sagte: „Du kannst mir jlauben, mien Jung, solche Jurken hatte ich!"
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