Ich hatte nun einen freien Sonntag und verbrachte diesen ganztägig zu Hause bei Frau und Kind. Es blieb nicht aus, dass ich mich ausführlich mit meiner Frau über meine neue Tätigkeit unterhielt. Ich war mir nicht sicher, ob ich einen Beruf gefunden hatte, den ich bis zum Rentenalter ausüben würde.
Aber was hatte ich denn für Alternativen? Zum „Labor Service“ wollte ich nicht mehr zurückkehren. Es wäre mir vor den dortigen Kollegen sehr peinlich gewesen. Außerdem war mein Dienstposten als Sanitäter mit einem Sanitätskraftwagen in eigener Verantwortung längst wieder besetzt worden. Ich hätte bestimmt nicht mehr in die medizinische Abteilung zurückkehren dürfen und wäre wahrscheinlich als Schichtführer im Objektschutz eingesetzt worden, denn immerhin war mein letzter Dienstgrad „Sergeant“.
Allerdings war das Betriebsklima beim „Labor Service“ immer sehr gut gewesen. Der häufige Kontakt zu den amerikanischen Soldaten war ebenfalls sehr angenehm. Mein künftiges Einkommen bei der Justiz, mit Frau und Kind etwa 750 DM brutto, war etwa so hoch wie beim „Labor Service“. Jedoch hatte ich dort materielle Vorteile, weil ich an der Verpflegung angeschlossen war und über Bekleidung und Wäsche verfügen konnte.
Natürlich hätte ich auch in die freie Wirtschaft gehen können. Ich war im Besitz des Führerscheins 2 und des Busführerscheins. Als Bus- oder Fernfahrer wäre ich aber zu oft von meiner Familie abwesend gewesen. Die Tätigkeit als Lastkraftwagenfahrer in der Stadt als Vollbeschäftigung war in der Regel mit Ladetätigkeit verbunden. Ich kannte das, weil ich abwechselnd mit einem Kollegen vom „Labor Service“ ein- bis zweimal in der Woche bei einer großen Spedition als Kraftfahrer nebenberuflich gearbeitet hatte. Dieser Verdienst, 5 DM Stundenlohn, würde natürlich künftig fehlen. Meine Frau versuchte, mir gut zuzureden. Sie war der Meinung, dass es mir in absehbarer Zeit gelingen würde, eine Tätigkeit im Justizvollzug zugewiesen zu bekommen, in welcher ich nicht mehr auf der Station und auch nicht im Wechseldienst tätig sein würde.
So beschloss ich weiterzumachen und meinen Dienst im Verwahrhaus II, Station 4, als eigenständiger Stationsbeamter wahrzunehmen. Um 6.15 Uhr am Montag stand ich vor der Zentrale gleichberechtigt mit den anderen Stationsbediensteten und hörte dem stellvertretenden Vollzugsdienstleiter, Verwalter Mienke, zu, der die Tagesanweisungen erläuterte. Dann erhielt ich das Rapportbuch meiner Station 4.
Obwohl ich erstaunt war, dass man nach so kurzer Zeit ins „kalte Wasser" geworfen wurde, fühlte ich mich nicht unsicher oder ängstlich. Die zwei Jahre bei der Bereitschaftspolizei waren für mich sehr förderlich gewesen. Ich war ausführlich an mehreren Waffen ausgebildet, auch gründlich in Selbstverteidigung und war auch durch intensive Sportausübung im Polizeidienst körperlich fit. Ich war im Besitz des Deutschen Sportabzeichens, sowie des Grund- und des Leistungsscheins der DLRG zum Zweck der Rettung Ertrinkender. Im Sommer 1965 war ich in den Kraftsportverein „KTV Sparta 1896" eingetreten. Ich beteiligte mich nach Anleitung im Gewichtheben und im freien Stil des klassischen Ringens. Ich wog damals 78 kg bei einer Größe von 1,77 m. Körperliche Auseinandersetzungen mit Gefangenen, die im Übrigen relativ selten waren, fürchtete ich nicht. Ich verfügte durchaus über entsprechende Erfahrung durch einige überstandene Schlägereien auf der Straße oder in Kneipen. Befürchtungen hatte ich jedoch vor meinem genetisch bedingten Jähzorn. Sofern eine Schlägerei durch die Gefahr eines tätlichen Angriffs gegen mich nicht mehr zu vermeiden erschien, konnte ich völlig die Beherrschung verlieren. Ich steigerte mich bei derartigen Anlässen durchaus in höchste Wut, egal wie stark mein Gegner war, oder ob ich Schaden nehmen könnte.
Ich hatte auch stets Glück. Bis auf einen Bänderabriss im linken Knie aufgrund eines Angriffs von zwei ehemaligen Gefangenen am Flughafen Tempelhof, hatte ich nur unwesentliche körperliche Blessuren erlitten.
Nach dem ersten Aufschluss auf der Station ging ich zu den drei Hausarbeitern in die Spülzelle und äußerte mich darüber, wie ich mir den Ablauf ihrer Tätigkeit vorstellen würde. Ich erwartete, dass sie ihre vorgesehenen Arbeiten pünktlich und ordentlich ausführen und die „Handelstätigkeit" mit anderen Gefangenen nicht übertreiben würden. Sie könnten bei mir gewisse Freiheiten bekommen, jedoch war es ihnen absolut untersagt, sich ohne Abmeldung von der Station zu entfernen oder Gefangene anderer Station in der Spülzelle zu dulden, wenn ich mal nicht anwesend war und nicht gefragt werden konnte. Verstöße gegen meine Anordnungen würde ich unbedingt ahnden, bei schwerer Pflichtverletzung ggf. mit der Ablösung von ihren Posten.
Alle drei versprachen hoch und heilig, sich stets ordentlich und vorschriftsmäßig zu verhalten, womit wir zur Tagesordnung übergehen konnten.
Wir begannen mit der Frühstücksausgabe. Es war vorgeschrieben, dass alle Insassen bekleidet zum Empfang des Frühstücks an die Tür kommen sollten. Beim Kollegen Griesel hatte das gut funktioniert. Bei mir versuchten tatsächlich zwei „Testpersonen", mit freiem Oberkörper ihr Frühstück zu bekommen. Ich wusste das zu verhindern. Mit einer deutlichen Anweisung an den Hausarbeiter, der gerade Kaffee in den Becher füllen wollte, wurde die Ausgabe unterbrochen. Meine Anweisung an den halbbekleideten Gefangenen war: „Unbekleidet gibt's kein Frühstück!" Das klappte gut. Die beiden Testpersonen durften erst nach der Ausgabe mit ihren Bechern zur Spülzelle gehen und ihr Frühstück abholen. Die Aktion war erfolgreich. Schon am nächsten Morgen hatten alle Insassen einen bekleideten Oberkörper vorzuweisen.
Gegen Mittag erschien Kollege Griesel und fragte mich, ob ich folgende Gegenstände immer bei mir habe: eine Signalpfeife, ein Taschenmesser und einen Notizblock mit Kugelschreiber. „Warum?“, fragte ich. „Mit der Pfeife kannst du im Notfall Alarm geben. Das Taschenmesser brauchst du, um einen Gefangenen, der sich erhängt hat, abzuschneiden. Block und Kugelschreiben brauchst du, um die Zelle aufzuschreiben, in der sich der Gefangene erhängt hat!" Ich war sicher, mir die Zellennummer auch ohne Aufschreiben merken zu können.
Nach dem Arbeitsausschluss war es ruhig auf der Station. In den Zellen befanden sich etwa zehn Nichtarbeiter und zwei Zellenarbeiter. Um diese musste ich mich zunächst nicht kümmern.
Während der Frühstücksausgabe hatten mir mehrere Gefangene sogenannte „Vormelder“ übergeben. Das waren DIN-A5 große Vordrucke, mit denen die Gefangenen Anträge stellen konnten, z. B. auf Sprechstunde mit Verwandten oder Bekannten, oder Rücksprachen beim Sozialdienst oder bei der Rechtsberatung. Besuche durften in einem Monat für eine Stunde gewährt werden. Es wurde so geregelt, dass jeder Gefangene im Abstand von zwei Wochen jeweils eine halbe Stunde Besuch empfangen durfte.
Es gab noch zahlreiche andere Gründe, einen Antrag auf einem Vormelder zu stellen, z. B. auch auf Aushändigung bestimmter Gegenstände aus der Habe des Gefangenen, die bei der Hauskammer aufbewahrt wurde. Ich nahm etwa 20 Vormelder entgegen und zeichnete jeden mit meinem Namenskürzel ab, weil sie sonst von dem zuständigen Büro, es nannte sich damals „Polizeibüro“, einige Jahre später dann Hausbüro, nicht bearbeitet wurden.
Gegen 10.30 Uhr wurde für den A-Flügel zur Freistunde angeschlagen. Es wurden nur die ausgeschlossen, die „die Fahne geworfen“ hatten. Bei dem kalten Wetter jetzt im Januar waren das nicht alle. Immerhin waren es insgesamt etwa 100 Gefangene, die zur Freistunde wollten. Ich ging mit hinaus.
Draußen liefen die Gefangenen ziemlich ordentlich um den quadratischen Hofplatz zwischen dem B- und dem C-Flügel. Sie unterhielten sich und rauchten fast alle. Plötzlich blieb ein Gefangener vor mir stehen und grinste mich an. Er sagte zu mir: „Was machst du denn hier?" Ich kannte ihn natürlich. Er war aus der Gegend meiner elterlichen Wohnung in Neukölln, in der ich bis 1961 gewohnt hatte. Ich wohnte in der Sülzhayner Straße, 50 m von der Mauer entfernt, und er am Kiehlufer, wo auch die Stammkneipe der Gruppe war, zu der ich mich häufig gesellt hatte. Zwar sah er eigentlich ganz gut aus und war ziemlich kräftig, wirkte aber sehr versoffen. Damals war er fast immer ohne Arbeit, prügelte sich auch manchmal, jedoch mit wenig Erfolg, weil er häufig angetrunken war. Wir nannten ihn immer beim Nachnamen, er hieß Dräke. Ich hatte ihm einmal 10 DM geliehen, weil er mich mit seiner Bettelei genervt hatte. Das Geld bekam ich nie wieder, was ich auch nicht erwartet hatte. Das war aber nun alles mindestens fünf Jahre her. Ich sagte zu ihm: „Geh erst mal weiter! Ich komme nachher bei dir vorbei." Mir war das etwas unangenehm. Ich wollte nicht unbedingt Kontakt zu ihm hier im Knast haben, das wollte ich ihm auch sagen.
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