»Du hast den gleichen verdammten Dickschädel wie deine Großmutter, Kind«, seufzte sie und zog mich in ihre Arme. »Dieser Laden soll dich nicht unter sich begraben und dir die Freude nehmen. Wenn du das schaffen willst, musst du kämpfen ... auch in Momenten, die hoffnungslos erscheinen. Ich will dich nur beschützen, verstehst du?«
»Dann tu das, indem du mir bei der Buchhaltung und den anderen Büroaufgaben hilfst. Nur am Anfang, bis ich einen Überblick über die Abläufe habe.«
»Wir werden uns in den nächsten Tagen alles ansehen.«
»Danke«, hauchte ich erleichtert und löste mich aus der Umarmung.
»Kommst du mit nach Hause, Liebes?«, fragte mein Vater, der die Autotür öffnete.
Ich schüttelte leicht den Kopf. »Nein, ich ... ich möchte jetzt zum Buchladen und noch ein letztes Mal Zeit mit Grams verbringen, bevor ...« Ich senkte den Blick und lächelte sanft, als ich wieder aufsah. »... bevor ich ihr kleines Reich auf den Kopf stelle und mein Paradies daraus mache. Wartet nicht auf mich.«
»Bist du dir sicher?«, fragte meine Mutter, während sie mich zum Abschied noch einmal auf die Wange küsste.
»Ich war mir nie sicherer.«
Sie nickte und stieg schließlich zu Dad in den Wagen. Als sie losfuhren, hob ich zum Abschied die Hand. Mit einem Lächeln auf den Lippen wandte ich mich ab und wollte gerade gehen.
»Miss Harmon?« Irritiert drehte ich mich wieder um, und Chris Dawson kam auf mich zugelaufen. »Gut, dass Sie noch da sind. Ich weiß nicht, wo ich heute mit meinen Gedanken bin, aber ich muss Ihnen doch noch die Schlüssel und die Unterlagen geben.«
Der junge Anwalt reichte mir den Schlüsselbund und eine Mappe, woraufhin ich ihn freundlich anlächelte. Auch ohne diese Schlüssel wäre ich in den Laden gekommen, da Grams sie mir hatte schon vor einiger Zeit nachmachen lassen, aber das sagte ich ihm nicht.
»Danke schön.«
»Viel Glück mit dem Laden. Vielleicht komme ich irgendwann mal vorbei.«
Mir entging nicht, dass Chris Dawson mit mir flirtete, dennoch versuchte ich, es geflissentlich zu ignorieren. Das, was mir im Büro zunächst nicht gelungen war, klappte nun tadellos. Männer wie er eigneten sich vielleicht für Abertausende Liebes- und Erotikromane, die gerade nur so aus dem Boden schossen und einen Hype nach dem anderen auslösten. Für das wahre Leben war dieser erfolgreiche Anwalt mit seiner düsteren Ausstrahlung und dem besonders gefährlichen Blick aber nichts.
»Wenn Sie nach einem guten Buch suchen, sollten Sie das tun«, antwortete ich, ohne eine Miene zu verziehen.
Eine unzufriedene Nuance blitzte in seinem Blick auf und verschaffte mir eine ungeheure Genugtuung, bevor ich ging. Offenbar hatte ich ihm nicht die Antwort gegeben, die er hören wollte, aber das war mir egal.
»Mina«, hielt er mich auf, und ein letztes Mal suchte ich seine gefährlichen, dunklen Augen.
»Sorry, ich hatte schon immer eine Schwäche für die netten Typen«, rief ich und zuckte mit den Schultern.
»Wer sagt, dass ich nicht nett bin?«, fragte er lachend.
»Deine Augen.«
Ich zwinkerte und drehte mich nicht mehr nach Chris Dawson um.
Grams kleines Reich
Als ich am Buchladen ankam, blieb ich einige Sekunden vor dem Schaufenster stehen und betrachtete mein Spiegelbild. Meine orangeblonden Haare leuchteten, ebenso wie meine außergewöhnlichen, hellbraunen Augen, die ich von meiner Großmutter geerbt hatte. Mein Gesicht war schmal, etwas schmaler, seit ich von ihrem Tod erfahren hatte. Ich hatte viele Tränen vergossen, kaum gegessen und mich durch die Tage geschleppt, in der Hoffnung, der Schmerz würde nachlassen. Dabei hatte ich mich selbst aus den Augen verloren. Ich hatte abgenommen, wirkte mit meinen gerade einmal Eins fünfundsechzig noch zierlicher. Das dunkelblaue Kleid, das ich trug, saß, ebenso wie die schwarze Leggins und mein heller Trenchcoat, viel zu locker.
Nach zwei Monaten war der Schmerz zwar nicht verschwunden, doch ich erreichte einen Punkt, an dem ich wusste, dass ich so nicht weitermachen konnte. Grams war nun an einem Ort, an dem es ihr besser ging. Sie würde nicht wollen, dass ich mich wegen ihr so gehen ließ.
Seufzend zog ich den Ladenschlüssel aus meiner Jackentasche und öffnete die Tür. Das kleine Glöckchen schellte und erwärmte mein Herz. Sofort schlug mir der typische Büchergeruch in die Nase, den ich liebte, seit ich denken konnte.
Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, zog ich meinen Trenchcoat aus und schaltete das Licht ein.
Großmutters Buchladen machte einen düsteren Eindruck mit den fast schwarzen Regalen, die sich aneinanderreihten, den dunklen Tischen und dem alten Kassentresen aus Massivholz. Unwohl fühlte ich mich deswegen jedoch nicht. Das wärmende Licht der zarten Lampen gab mir ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.
Trotz alledem war der Laden nach Großmutters Tod eingestaubt. Ich konnte in den letzten Monaten nicht herkommen und weitermachen. Alles verband ich mit ihr, jedes einzelne Buch rief eine Erinnerung hervor, gegen die ich niemals hätte ankämpfen können. Grams würde für immer ein Teil dieses kleinen Reiches sein, selbst dann noch, wenn ich einmal alt wäre.
»Es ist Zeit für einen Tee, oder was meinst du, Grams?«, sagte ich in die Stille hinein und hoffte, sie würde mich da, wo sie jetzt war, hören.
Mit einem Lächeln auf den Lippen zog ich mich in die kleine Küche zurück und setzte Teewasser auf. Grams hatte nichts von neumodischem Schnickschnack gehalten, also füllte ich das Wasser in den traditionellen Teekessel. Ein Erbstück meiner Ururgroßmutter, wie Grams mir stolz berichtet hatte.
Während das Wasser auf dem Ofen erhitzt wurde, ging ich die unterschiedlichen Teesorten durch. Letztendlich entschied ich mich wie immer für Pfirsich. Gedankenverloren sog ich sein Aroma ein und füllte ihn in den leeren Teebeutel. Grams hatte nur losen Tee gekauft und nie die fertig abgepackten Päckchen. Sie hatte darauf geschworen, dass das Getränk so viel intensiver schmeckte, und sie behielt recht.
Das Pfeifen des Teekessels riss mich aus meinen Gedanken und ich goss das heiße Wasser in die Tasse. Ich gab den Teebeutel hinein und trat zurück in den Verkaufsraum. Nachdem ich die Teetasse auf dem Tresen abgestellt hatte, lehnte ich mich darauf und blickte erneut durch den Raum.
Das sollte nun also mein kleines Paradies sein, der Ort, an dem ich die meiste Zeit des Tages verbringen und Großmutters Traum wahr werden lassen würde.
Lautes Prasseln schreckte mich auf und ich blickte aus dem großen Schaufenster nach draußen. Bereits in der Nacht hatte es gestürmt, nun waren auch noch schwere Wolken aufgezogen, die Regen brachten. Es war ein typischer Oktobertag im grauen London. Doch das Wetter störte mich nicht. Ich war schon immer eher der Herbsttyp gewesen. An Tagen wie diesen konnte man sich ohne Reue mit einem Buch ins Bett legen und die Ruhe genießen, die das Wetter mit sich brachte. Diese Jahreszeit würde mir immer die liebste sein.
Auch jetzt überlegte ich, mir ein Buch zu nehmen und es mir in einer der Leseecken bequem zu machen. Langsam richtete ich mich auf und spazierte in die Liebesromanecke. Meine Augen suchten das Regal nach einem Schatz ab, den ich bisher nicht kannte – was wirklich schwierig war.
Ich liebte Liebesromane, gut durchdachte Bücher mit sympathischen Hauptpersonen. Nicht diese Macho-Typen, die eine Million nach der nächsten verprassten und sich ein unscheinbares Püppchen suchten, das ihnen nicht die Stirn bot.
Vertieft in den Klappentext eines Romans bemerkte ich nicht, dass das kleine Glöckchen an der Tür erneut schellte und einen Besucher ankündigte. Erst als ich das leise Tropfen wahrnahm, das der Regen verursachte, der von seiner Jacke abperlte, drehte ich mich erschrocken um. Vor mir stand ein junger Mann, der etwa in meinem Alter sein musste. Seine längeren, dunkelbraunen Haare hingen strähnig vom Regen herab. Er trug einen Dreitagebart, der sein kantiges Gesicht einrahmte, und seine schmalen Lippen zeigten ein freundliches Lächeln. Offenbar hatte ihm das schlechte Wetter nicht die Laune verhagelt. Ich sah ihm in die Augen und hielt für einen kurzen Moment den Atem an. Wunderschön und tiefblau strahlten sie mich an und warteten nur darauf, dass ich mich in sie verliebte ... wie damals.
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