Stattdessen hatte sie einen Urlaub gebucht, sich ziemlich überschwänglich von uns verabschiedet – was uns hätte seltsam vorkommen müssen – und war nie aus Italien zurückgekommen.
Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich nichts bemerkt hatte, schließlich war ich diejenige gewesen, die am meisten Zeit mit ihr verbracht hatte. Doch wenn meine Großmutter eine Sache beherrscht hatte, dann war es, schlimme Situationen zu überspielen.
»Mina«, riss meine Mutter mich aus meinen Gedanken, als sie meine Tränen bemerkte, und legte ihre Hand tröstend auf meine. Zusammen mit meinem Vater und seinem jüngeren Bruder Patrick saßen wir in der Kanzlei eines Anwaltes, der in wenigen Minuten Großmutters Testament verlesen würde. Eine Sache, die einem umso deutlicher vor Augen führte, dass man einen geliebten Menschen verloren hatte.
»Ich hätte etwas merken müssen«, flüsterte ich und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.
»Liebling, hör auf damit. Niemand hätte etwas ändern können«, widersprach mein Vater und mein Onkel stimmte ihm mit einem Nicken zu.
Trotzdem würde ich mir ewig Vorwürfe machen. Das Verhältnis zwischen meiner Großmutter und mir war sehr freundschaftlich gewesen. Wenn ich Probleme oder Sorgen hatte, war ich eher zu ihr gegangen als zu meiner Mutter. Als ich von ihrem Tod erfuhr, verlor ich nicht nur ein Familienmitglied, sondern auch eine Freundin ... meine einzige Freundin. Von einer Sekunde auf die andere stand ich allein da.
»Natürlich hätten wir et...«
Gerade als ich widersprechen wollte, betrat der Anwalt sein Büro und ich verstummte. Ich versuchte, mich zu beherrschen und die Tränen zu ignorieren. Leider gehörte ich nicht zu den Menschen, die ihre Gefühle gern offen vor anderen zeigten. Ich trauerte allein, weil ich ohnehin das Gefühl hatte, dass mich niemand verstand.
»Chris Dawson«, stellte sich der Anwalt vor und reichte jedem die Hand. »Mein Beileid für Ihren Verlust.«
Als er meine Hand ergriff, sah er mir direkt in die Augen und ich erstarrte. Schnell ließ ich seine Hand los und setzte mich wieder auf meinen Platz.
Chris Dawson tat es mir gleich und öffnete einen Ordner. Verstohlen betrachtete ich ihn dabei. Ich hatte mit einem älteren Mann gerechnet, als meine Mutter mir von dem Termin erzählte. Dawson aber war jünger, vielleicht gerade Anfang dreißig. Er war ein attraktiver Mann mit dichtem, dunklem Haar, ausdrucksstarken braunen Augen und einer trainierten Figur. Eine geheimnisvolle und düstere Aura umgab ihn, die mich vor wenigen Sekunden kurz aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
»Mrs Harmon kam vor einigen Monaten zu mir, um ihren Letzten Willen bei mir zu hinterlegen«, erklärte Chris Dawson endlich und blickte von den Zetteln zu mir. »Es tut mir sehr leid, dass nun der Moment gekommen ist, in dem ich ihn vollstrecken muss.«
Er zog ein Blatt hervor, löste seinen Blick von mir und las die letzten Worte meiner Großmutter vor: »Testament von Cathrine Maria Harmon, geborene Corey.
Meinen Söhnen Patrick und Mason vermache ich die Andenken an meinen verstorbenen Mann. Mason erhält zudem die dem Schreiben beigelegte Uhr und den ebenfalls beigefügten Brief.«
Der Anwalt reichte meinem Vater eine silberne Herrenuhr und einen Umschlag. Irritiert betrachtete Dad die Uhr und fuhr mit einem Finger über zwei eingravierte Buchstaben, die ich von meinem Platz aus aber nicht erkennen konnte. Ich glaubte jedoch, dass einer davon ein E war.
»Meine Schwiegertochter Elisabeth erhält meinen Schmuck. Möge er dich bei vielen schönen Anlässen begleiten.
Meiner Enkeltochter Mina überschreibe ich den Buchladen in der Kings Road und die darüberliegende Wohnung. Zauber dir dein eigenes, magisches Paradies, kleiner Engel.«
Fassungslos sah ich auf und Chris Dawson schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln. Hatte ich gerade richtig gehört? Hatte meine Großmutter mir tatsächlich ihren Laden und die dazugehörige Wohnung vererbt? Ich schluckte schwer und tauschte einen Blick mit meinen Eltern. Auch ihnen stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben, doch Freude über mein Erbe erkannte ich nicht.
Es fühlte sich unwirklich an, als wir etwas später das Büro des Anwalts verließen.
»Ich werde mich auf den Weg nach Hause machen«, sagte Onkel Patrick und reichte meinen Eltern die Hand. Das Verhältnis zwischen ihnen war noch nie das Beste gewesen, das hatte er mich bisher aber nicht spüren lassen.
»Du wirst den Buchladen in Mutters Sinn weiterführen, dessen bin ich mir sicher. Ich bin so stolz auf dich.«
Er umarmte mich fest und ging schließlich zu seinem Wagen. Offenbar war er der Einzige, der die Entscheidung meiner Großmutter unterstützte und guthieß. Sowohl meine Mutter als auch mein Vater machten ein verkniffenes Gesicht, seit wir erfahren hatten, dass ich mit gerade einmal dreiundzwanzig Jahren die Besitzerin eines kleinen Buchladens geworden war.
»Wollt ihr mir bitte sagen, warum ihr so schaut, oder muss ich darauf warten, bis wir zu Hause sind?«, durchbrach ich die angespannte Stille.
»Cathrine hätte dir den Laden nicht vererben dürfen«, platzte es aus meiner Mutter heraus.
»Warum nicht?« Ich verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.
»Es ist unverantwortlich. Auch wenn du ihr ständig geholfen hast, hast du dennoch keine Ahnung davon, wie man so ein Geschäft führt. Außerdem lief es vor ihrem Tod schon schlecht, daran wird sich nichts ändern, nur weil du es übernimmst. Ganz davon abgesehen bist du zu jung.«
Ich zog die Stirn kraus und hielt dagegen: »Ich bin nicht zu jung. Glaub mir, ich kenne Leute in meinem Alter, die haben weitaus anspruchsvollere Aufgaben, als einen kleinen Buchladen zu führen.«
Ich kannte die meisten Abläufe, und die, die ich nicht beherrschte, würde ich lernen. So schwer konnte das nicht sein. Nein, meine Mutter sträubte sich aus einem anderen Grund so gegen die Vorstellung. Und als hätte sie meine Gedanken gelesen, sprach sie diesen schließlich aus.
»Mina, du hast einen ausgezeichneten Uniabschluss in Erziehungswissenschaften. Du wolltest damit etwas bewegen, aber seit deinem Abschluss vor zwei Jahren ist nichts passiert. Ich verstehe, dass die ganzen Absagen dich entmutigt haben, aber ich werde nicht zulassen, dass du deine Zeit in einem Buchladen verschwendest.«
Meine Mutter war wütend, das spürte ich sofort. Ja, vielleicht war das Studium vergeudete Zeit gewesen, wenn ich den Laden übernahm, doch Erziehungswissenschaften zu studieren war nie mein Traum gewesen, wie meine Mutter behauptete. Obwohl ich es hätte richtigstellen können, ließ ich mich auf keine Diskussion ein.
»Mom, ich habe einfach festgestellt, dass es mir nicht liegt. Die Arbeit im Buchladen hat mich glücklich gemacht, so glücklich wie es die Praxiszeit während des Studiums nie getan hat. Ich werde Grandmas Laden weiterführen, egal wie, ob mit oder ohne eure Unterstützung. Allerdings hoffe ich, dass ich es mit euch an meiner Seite tun kann. Denn lass mich ehrlich sein, Mom, ohne deine Hilfe werde ich es vielleicht nicht schaffen. Und Dad, ich brauche wirklich jemand, der mir beim Umzug hilft.«
Abwartend sah ich meine Eltern an und hoffte, dass sie mich unterstützen würden. Wie ich bereits gesagt hatte, würde ich diesen Kampf auch ohne sie führen, aber meine Familie war mir das Wichtigste auf der Welt. Ich hasste es, mit meinen Eltern zu streiten, auch wenn sich das manchmal nicht vermeiden ließ. Es hatte schon oft Momente gegeben, in denen die beiden mir nichts zugetraut hatten, obwohl ich ihre Unterstützung dringend gebraucht hätte. Bislang hatte ich es ihnen immer bewiesen, aber das hatte Kraft gekostet.
»Natürlich helfen wir dir«, antwortete mein Vater für meine Mutter mit und seine Miene erhellte sich. Mom sah nach wie vor skeptisch aus.
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