1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Dennis schaut sich die vorbeifliegende Landschaft an. Es sind noch andere Boote unterwegs, die meisten fahren in dieselbe Richtung. Hinaus ins Wochenende, hinaus in das Ostsee-Inselmeer, den sogenannten 'Skärgården' mit seinen 100.000 Inseln. Wieder andere kommen ihnen entgegen. Sie werden sich einen Inselplatz im Mälaren, dem drittgrößten Süßwassersee Schwedens, suchen, in dem es unzählige Inseln gibt, kleine und große. Die meisten bieten die Möglichkeit anzulegen und einige Zeit dort zu verbringen.
Die Luft ist klar und lau. Heute ist es wieder ein sehr warmer Tag, aber im Fahrtwind merkt man das nicht. Kein Wölkchen ist am Himmel. Corinna liebt diesen klaren Himmel, der sich im blanken Wasser des Mälaren widerspiegelt. Die Fahrt geht zunächst einmal eine knappe Stunde lang vorbei an Kleinstadt-Wohngebieten, Parklandschaften und mehreren anderen kleinen Bootclubs. Schließlich erreichen sie die belebte und ehrwürdige Altstadt von Stockholm, fahren vorbei am Rathaus, mit der goldenen Kuppel und den drei goldenen Kronen obendrauf und vorbei an den romantisch erhaltenen alten Häusern mit all den Touristen, die sich in den engen Gassen tummeln.
Hier drosselt André die Geschwindigkeit wieder. Es kreuzen immer wieder Boote die markierte Fahrrinne und auch größere Ausflugsboote sind unterwegs, die jedesmal erst eine größere Bugwelle und dann einen Rücksog verursachen, den André zu parieren hat. Er hat das im Griff. Langsamer geht es dann weiter in die Einfahrt zur Schleuse, die den Mälaren und die Ostsee bei einem Höhenunterschied von etwa einem Meter verbindet. Hier vermischen sich Süß- und Salzwasser oder eher das Brackwasser der Ostsee mit dem Süßwasser des Mälaren. Der Mälaren dient als Trinkwasserquelle für ganz Stockholm, und das Wasser in der Innenstadt ist von so guter Qualität, daß dort schon so mancher prächtige Lachs gefangen und auch gegessen werden konnte.
An der Anlegestelle warten schon mehrere Boote auf das Öffnen der Schleuse, und schließlich wechselt die Ampel auf grünes Licht, das Einfahren in die Schleuse ist jetzt erlaubt. Langsam gleiten die Boote in die Schleuse, die Platz für etwa zwanzig Boote bietet, beidseitig je zehn, wobei sich Bug an Heck und wiederum Bug an Heck schmiegen müssen. Der Schleusenwärter dirigiert über Lautsprecher, welches Boot an welcher Seite anzulegen hat. Hier muß man aufmerksam zuhören. Zuwiderhandlung wird vom Schleusenwärter mit schimpfenden Kommentaren bestraft. Corinna ist nicht ängstlich und lernt auch schnell, in langsamer Fahrt vorsichtig an Deck zu steigen, mit dem Bootshaken eines der Festhalteseile an der Schleusenwand zu ergattern, um dann sitzend das Boot seitlich an die zugewiesene Schleusenwand zu ziehen. Nun kann André den Motor abstellen. Corinna sitzt vorn an Deck und hält das Boot eng an der Schleusenwand, André geht mittlerweile achtern und ergreift ebenfalls eines der Seile. Nach einer Weile schließt sich das Mälar-Schleusentor und langsam wird das Wasser abgelassen, bis das Niveau der Ostsee erreicht ist. Das Boot sinkt. Corinna und André halten nun die Festhalteseile mit den Bootshaken. Nun öffnet sich langsam das Ostsee-Schleusentor, erst nur einen Spalt, dann langsam immer weiter, wobei ein Sog entsteht. Hier müssen sie die Seile kräftig festhalten. Schließlich beruhigt sich das Wasser, die Ampel schaltet auf grün und die Bootskarawane setzt sich vorsichtig im Reißverschlussprinzip wieder in Bewegung in Richtung Ostsee. Auf der anderen Seite warten bereits andere Boote auf den Einlass, und das ganze Spiel geht wieder von vorn los, diesmal in umgekehrter Richtung.
Nun geht die Fahrt weiter, und immer häufiger tauchen rechts und links zwischen Bäumen, in Wäldern, auf langen Wiesen und auf Felsen, die typisch schwedischen Sommerhäuser auf, hübsch gezimmert aus dem reichlich vorhandenen Kiefernholz, viele rot mit weißen Zierstreifen, mit sprossenverglasten Fenstern, dem schwarzen Schornstein und der übergroßen Nationalflagge. Gelbes Kreuz auf blauem Grund, so flattern sie mächtig im Wind auf jedem Grundstück, dessen Besitzer etwas auf sich hält.
Sattes Grün umgibt die Häuser, weiße Gartenmöbel, gedeckter Tisch mit wehendem, bunten Tischtuch, einer Blumenvase obendrauf mit wilden Blumen, laden zu Kaffee und Kuchen ein. Corinna kann sich nicht satt sehen an dieser Bullerbü-Idylle. Und immer wieder tauchen neue, noch schönere, noch größere, dann wieder niedlichere, idyllischere Häuser und Grundstücke auf. Sie fahren vorbei an kleinen Inseln, manchmal nur bebaut mit einem einzigen Haus und natürlich auch hier geschmückt mit der weithin sichtbaren, flatternden Nationalflagge. Ein Boot am Anlegesteg sorgt für den Transport zur und von der Insel.
André hat die Seekarte vor sich auf dem Kartentisch oberhalb des Armaturenbretts liegen und folgt der von ihm eingezeichneten Route, die er durch Bleistiftlinien, Markierungen, Kurse mit Gradzahlen und Distanzangaben ergänzt hat. Er ist diese Strecke vorher schon mehrere hundert Male gefahren und trotzdem, nach richtiger Seemannsmanier, hält er sich immer bereit für ein eventuell aufkommendes Unwetter oder Nebel. Da hilft es dann plötzlich nicht mehr, daß man an dieser Insel schon so viele Male vorbeigefahren ist, so daß man sie auswendig kann. Kommt man im Nebel von der ausgezeichneten Fahrrinne ab, lauern Untiefen und Klippen, die das Boot schnell zum Sinken bringen können. Da helfen nur Seekarte, Kompass, Zirkel, Dreieckslineal und Distanzlog. Und André läßt sich da auch ruhig und unbeirrt von Corinna belächeln, die auf den wolkenlosen Himmel deutet und diese Vorsicht für übertrieben hält. Einige Monate später wird sie ihm noch für seine Genauigkeit dankbar sein. Dennis hält sich da völlig raus und hat sich mittlerweile unten in die Kajüte verzogen, liegt auf seiner gemütlichen Bettdecke und schmökert in alten Micky Mouse Heften aus Deutschland.
André drosselt die Geschwindigkeit. Sie fahren durch enge Wasserpassagen, hindurch zwischen sich zu beiden Seiten erhebenden, schroffen und scharfkantigen Klippen, in deren Jahrtausende alten marmorierten Gesteinsfurchen es vereinzelten Krüppelkiefern geglückt ist, sich mit ihren verästelten Wurzeln krampfhaft festzuhalten. Hinter der nächsten Wasserkurve öffnet sich dann wiederum eine breitere, vom Sonnenlicht durchflutete, Passage, mit riesigen, flachen und weich geschwungenen Felsen, die zu einem Sonnenbad einladen. Die scharfen Strukturen in verschiedenen Sandfarben, die den ganzen Stein durchziehen, erzählen von den dramatischen und längst vergessenen Begebenheiten der letzten Eiszeit. Corinna schmiegt sich an André „Kannst du dir vorstellen, wie glücklich ich bin? Du lebst in einem wunderbaren Land. Ich kann mich gar nicht sattsehen an all der Schönheit“. „Oh ja, man sieht es dir an. Du strahlst ja nur noch. Wie schön, daß du mein Land genauso liebst wie ich“. André schaut unten in die Kajüte „Dennis, willst Du mal eine Weile steuern?“ Wie der Blitz springt Dennis vom Bett und die zwei Stufen hoch zum Steuerstand. „Au ja, meinst du denn, daß ich das kann?“ Corinna macht ihren Platz frei, so daß André neben Dennis sitzen kann, der sich jetzt hinter das Steuer schwingt. „Warum denn nicht? Andreas fährt schon seit Jahren, schon solange wie wir mit der Familie draußen ins Inselmeer gefahren sind“. Er überläßt Dennis das Steuer und erklärt die Bedeutung der verschiedenen Wasserzeichen und wie man sie auf der Seekarte findet und sich daran orientiert. Dennis steuert ruhig durch die Fahrrinne. Das Gaspedal braucht er bei der gemäßigten Fahrt nicht zu bedienen. André zeigt ihm das weiße Schild mit rotem Rand für die Geschwindigkeitsbegrenzung, das fest verankert auf einem der Felsen rechts neben der Fahrrinne steht. 7 Knoten, das ist die richtige Geschwindigkeit für Dennis, um das Steuern zu lernen. „Hier auf dem Log kontrollierst du die Geschwindigkeit des Bootes“. André zeigt mit dem Finger auf die Scheibe am Armaturenbrett. „Und, was liest du da?“ „7 oder 8 Knoten?“ „Ja, das stimmt. Das kannst du so lassen. Fahr ruhig so weiter und halte dich schön in der Mitte der Fahrrinne“. Dennis ist verdammt stolz. Ganz aufrecht sitzt er auf dem Fahrerplatz, sonst würde er auch gar nicht über das Steuer hinwegsehen können. Corinna beobachtet die beiden schweigend und denkt, daß André auch noch obendrein ein sehr liebevoller Vater ist. André schaut sie plötzlich lächelnd an - sein Blick geht ihr genau ins Herz - und sie lächelt zurück.
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