Sie gehen weiter, und diesmal schaut Corinna ein wenig mehr aufmerksam, wohin sie gehen. „Oh, sieh mal, da ist ja schon wieder was los.“ Corinna will es diesmal richtig machen und schon wieder ausweichen, aber Dennis erklärt „Kein Problem. Die sind völlig harmlos, ganz normale Typen“. Vor ihnen stehen einige Punker in einer Ecke und quatschen miteinander. Alle haben hohe, gestylte Hahnenkämme in den verschiedensten, leuchtenden Farben, bunte Jacken, hautenge knallrote oder grellgrüne Hosen. Es wird gelacht. „Die tun einem nichts“, erklärt Dennis und völlig unbehelligt gehen Corinna und er an der kleinen fröhlichen Gruppe vorbei.
Es ist ein schöner Nachmittag gewesen. Corinna hat wieder einiges gelernt an diesem Tag. Vor allem, daß sie sich auf Dennis verlassen kann. Er hat sich problemlos an die Großstadt, den starken Verkehr und an die fremde Sprache angepaßt. Beeindruckend, wie schnell das doch bei Kindern und Jugendlichen geht.
5
Corinna stürzt sich von Anfang an mit Freude in die Arbeit. Es ist wirklich ein großer Vorteil, in einer Weltfirma zu arbeiten. In welchem Land auch immer sie in eine der Niederlassungen kommt, irgendwie fühlt sie sich immer gleich zu Hause. So ist es auch hier in Schweden. Im Gegensatz zu Deutschland hat hier noch jeder Mitarbeiter ein eigenes, wenn auch kleines Büro, ausgestattet mit Möbeln in nordischem Design. Wenn ihr danach ist, kann sie die Tür hinter sich zu machen und in aller Ruhe denken, telefonieren, arbeiten. Corinna hatte in Deutschland auch ihr eigenes Büro gehabt, aber nur, weil sie Führungskraft war, ihre Mitarbeiter hatten sich mit drei oder vier Kollegen ein größeres Zimmer teilen müssen. Corinna mag die Arbeit im Großraumbüro überhaupt nicht. Sie würde sich nicht konzentrieren können, jedes Telefonat der Kollegen, jede Diskussion, würde sofort ihre Gedanken durcheinander bringen. Jetzt ist sie froh, es hier so gut getroffen zu haben.
Ihre Abteilungsleiterin stellt sie erst einmal den Kollegen vor. Alle sind freundlich, machen einen recht netten Eindruck. Man spricht sofort und ausschließlich Englisch mit ihr. Als sie sich an ihrem Arbeitsplatz zurecht gefunden hat, geht ihre Chefin mit ihr die Details ihres Aufgabengebietes durch, sie erklärt die Ziele und Verantwortungsbereiche der Abteilung, deren Struktur und Organisation. Corinna notiert wichtige Details, stellt viele Fragen und ist nach dem Einleitungsgespräch zufrieden mit dem, was sie bereits über ihre Umgebung gelernt hat. So wie immer, macht sie sich erst einmal ein Bild mit Fakten und notiert die sich dabei ergebenden Fragen, die sie im nächsten Gespräch dann wieder aufnehmen will. Die Tatsache, daß sie bereits in sechs verschiedenen deutschen Niederlassungen der Firma gearbeitet hat, ist von großem Vorteil. Firmeninterne Abkürzungen, Strukturen, Hierarchien und Organisationen sind identisch oder zumindest ähnlich, so daß sie sich sehr schnell zurecht findet. Auch für die Firma ist dies natürlich ein Gewinn. Die Einarbeitungszeit verkürzt sich dadurch erheblich.
Corinnas Aufgabe soll darin bestehen, von internen Abteilungen identifizierte Problemgebiete zu untersuchen, zu analysieren und Lösungsvorschläge zu diskutieren, zu verabschieden und schließlich einzuführen. Eine interessante Aufgabe, findet sie. Und schon bald bekommt sie den ersten Auftrag von ihrer Chefin zugeteilt. Corinna kniet sich sofort hinein in die Aufgabe, es macht ihr richtig Spaß. Ihre bisherigen Tätigkeiten in Deutschland waren von ganz anderer Natur gewesen. Sie hatte Menschen geführt und mit ihnen gemeinsam das Abteilungsziel erreicht. Hier muß sie nun wieder selbst operativ Hand anlegen. Und sie will um jeden Preis eine gute Arbeit abliefern. Nach drei Wochen hat sie eine längere Besprechung mit ihrer Chefin, die sie fragt, wie sie voran kommt. “Ja, das Problem ist gelöst, ich muß nur noch die Dokumentation fertigstellen“, beginnt Corinna sachlich, aber auch ein klein wenig stolz. Ihre Chefin sieht sie fragend an „Wie meinst du das, gelöst?“. “Ich habe den Auftraggeber interviewt, das Problem beschrieben, - man benötigte eine kleinere Datenbank -, die Variablen habe ich aufgenommen, die Datenbank erstellt und zusammen mit der Abteilung getestet. Der Test lief gut, es gab keine negativen Überraschungen, der Auftraggeber ist zufrieden und hat die Arbeit gutgeheißen, so daß ich gestern damit anfangen konnte, die Dokumentation zu schreiben, nämlich wann und wie die Datenbank angewendet werden soll. Das ist der aktuelle Stand“. „Das hört sich ja richtig gut an. Mit welchem Programmierer hast du denn zusammengearbeitet? Wer hat die Datenbank erstellt?“ Corinna begreift die Frage nicht richtig. „Wie meinst du das? Mit niemandem. Die Datenbank habe ich selbst erstellt und zusammen mit dem Auftraggeber getestet“. Corinnas Chefin fängt an zu lachen. „Na, da hast du aber einiges falsch verstanden. Also, hier läuft das so, daß du das Problem analysierst und dann die Lösung vorschlägst. Dann kommt der Programmierer ins Spiel, der das Programm schreibt oder eine Programmänderung vornimmt. Du selbst mußt keine Programmierarbeiten durchführen. Du bist doch gar kein Programmierer, du bist doch der Analytiker.“ Ja, da ist sie mal wieder übereifrig gewesen, hat scheinbar auch nicht richtig zugehört. Und vor allem hätte sie sich die Abend- und Wochenendarbeit ersparen können, an denen sie sich unter Druck gesetzt hat, sich in die relativ einfache Programmiersprache einzulesen. Allerdings hat es ihr auch großen Spaß gemacht, wieder mal Neuland zu betreten. Ihr liegen alle typisch logischen Aufgaben, und Programmiersprache ist pure Logik. Jetzt ist sie ein wenig beschämt, aber auch ein wenig stolz, daß sie in so kurzer Zeit die Lösung bereits eingeführt hat, ganz allein. Was sie nicht weiß und hier wirklich noch lernen muß, ist, daß man in Schweden sehr großen Wert auf Teamwork legt. Die Leistung eines einzelnen, der aus der Gruppe hervorragt, ist hier nicht unbedingt gefragt. Hier trägt jeder in seinem Team dazu bei, daß das Gruppenziel erreicht wird. Jeder trägt dazu auf seine eigene Weise und entsprechend seinen eigenen Fähigkeiten bei. Es gibt immer in einem Team Menschen, die langsamer und andere, die schneller sind, solche die von strahlender Intelligenz sind und solche, die einfach nur das tun, was man von ihnen verlangt. Jeder wird in der Gruppe gleichermaßen benötigt und jeder hat denselben Stellenwert. Ach, das ist ja so eine völlig andere Denkweise als in Deutschland. Daran muß sich Corinna erst gewöhnen.
In Deutschland kämpfte jeder für sich. Jeder wollte das beste Ergebnis vorweisen, besser sein als die anderen. Die anderen waren Konkurrenten, denen man so wenig wie möglich über die eigenen Gedanken zum Problem und noch viel weniger zu den Lösungen verriet. Jeder wollte den Lob als erster und möglichst allein einstecken.
Diese andere Denkweise ist nun wohl die größte Herausforderung für Corinna und der größte Unterschied zwischen Corinnas alter und ihrer neuen Heimat. Und dem kann sie sich nicht mal eben in einem Monat anpassen. Corinna wird Monate, sogar Jahre dafür brauchen, sich in kleinen, steten Schritten an diese andere Kultur anzupassen.
Zunächst einmal aber findet sie es befremdend, wenn sich niemand darüber aufregt, wenn ein Kollege unvorbereitet zu einer Besprechung kommt. Wie kann er mit dem Argument davonkommen, er habe keine Zeit gefunden, sich vorzubereiten. Und wie dreist darf jemand erst sein, der selbst zu einer Besprechung bittet und dann eine halbe Stunde vor Ende der anberaumten Zeit und mitten in einer Diskussion aufsteht mit den Worten “Ich muß jetzt gehen, meine Tochter vom Kinderhort abholen. Ihr macht bitte ohne mich weiter und informiert mich morgen, wie ihr euch geeinigt habt.“ Corinna hat immer in der Person, die eine Besprechung einberuft, eine Autoritätsperson gesehen. Und hier überläßt diese Person einfach so die Verantwortung an die gesamte Gruppe. Und niemand findet etwas Besonderes dabei. Die Besprechung und die Diskussion geht einfach reibungslos weiter. So etwas wäre in Deutschland unvorstellbar. Auch stört es sie anfangs furchtbar, daß während eines kleineren Meetings ein Teilnehmer einen Apfel aus der Tasche zieht und nun beginnt, ihn genüßlich und geräuschvoll zu verspeisen. Ein anderer hat sich die Schuhe ausgezogen und geht nun auf Strümpfen an das Whiteboard, um den Kollegen ein Detail seines Problems zu veranschaulichen. Unmöglich, denkt Corinna, und als dann schließlich auch noch diskutiert wird, ob ein interner Briefkasten am Ende der rechten Flurhälfte oder besser vielleicht doch am Ende der linken Flurhälfte aufgehängt werden soll, steht sie auf, entschuldigt sich mit leicht erregter Stimme und den Worten, sie habe heute noch Wichtigeres zu tun und sie würde dann schon mitbekommen, wie man sich nun entschieden hätte. Alle lächeln, keiner ist beleidigt, keiner kommentiert. Sie verlässt den Raum.
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