Nach einer guten Weile öffnet sich die Passage zu einer weiten Bucht und voraus am Horizont ist das offene Meer zu sehen. Eine gleißende Wasseroberfläche in grellen Hellblau- und Weißtönen liegt vor ihnen. Tausend funkelnde Sterne tanzen glitzernd auf den Wellen. „Ist das schön“. Corinna staunt nur. „Na, dann will ich mal wieder das Steuer übernehmen. Das hast du richtig genug gemacht, Dennis. Schau mal, da vorn biegen wir wieder in eine recht enge Passage ein. Und da werden wir eine kleine, ganz spezielle Pause machen“. Dennis schwingt sich wieder vom Sitz und bleibt gespannt im Gang stehen. André übernimmt das Steuer und gibt ein wenig mehr Gas, steuert das Boot durch die weite Fahrrinne und dann im großen Bogen nach Steuerbord zwischen zwei steil abfallende Felsen. „So, jetzt legen wir hier, genau hier in dieser 'Durchfahrt', den Anker. Dennis, holst Du bitte den Angelkasten aus dem Schrank.“ Dennis kramt in einem der Schränke und zieht einen großen Plastikkasten hervor. „Ja, wie, und wo sollen wir jetzt stehen und die Angeln auswerfen?“ Dennis hat bisher noch nicht so oft geangelt. Ja, in Deutschland schon mal, an so einem 'Put and Take'-See. Eigentlich ganz schön langweilig, wenn man die Fische herausholt und bezahlen muß, die vorher erst in den See gesetzt wurden. Aber damals war auch das schön. „Warte es ab. Ich bin gleich so weit. So, der Anker liegt perfekt und sitzt gut, den muß ich nur noch spannen. Jetzt komme ich rüber zu dir. Corinna, kannst du uns den weißen Eimer holen, der steht im Schrank unter der Spüle.“ André hat den Motor abgestellt. Das Boot liegt jetzt ganz ruhig und dreht sich nur leicht im Wind um die eigene Achse oder besser um den Anker herum, bis es schließlich still vor Anker liegt. André öffnet den Angelkasten und entnimmt ihm zwei Papprollen, auf die Angelschnur mit vielen Haken aufgewickelt ist. Vorsichtig löst er die kleine Öse und den ersten Haken, dessen Widerhaken fest in der Papprolle sitzt. Die Öse befestigt er an einer kurzen Heringsangel. Dann rollt er die Angelschnur, an der sich insgesamt sechs Haken befinden, ein wenig ab. Er reicht Dennis die Angel „Jetzt lehnst du dich hier über die Reling, ohne rauszufallen natürlich, löst hier die Sperre am Griff und läßt die gesamte Angelschnur mit allen Haken einfach im Wasser in die Tiefe gleiten. Das Bleigewicht am Ende der Angelschnur zieht sie ganz von selbst runter. Probier das mal.“ Dennis hängt die Angel über die Reling und löst die Sperre. Leise surrend senkt sich die Schnur mit den Haken in die Tiefe, weiter, immer weiter, bis die Angelschnur zu Ende ist. „So, und nun rückst du ab und zu ein wenig, damit die Haken da unten auch in Bewegung sind und schön blinken. Und dann schau'n wir mal, was sich hier so tut“. Dennis rückt ab und zu die kurze Angel etwas in die Höhe. André rollt jetzt auch die zweite Handangel aus und läßt sie in die Tiefe gleiten.„Wie tief ist es denn hier?“ fragt Corinna . „Ich schätze 40-50 Meter, wir können aber auch nachher mal in der Seekarte nachschauen.“ „Du, André, da zappelt was“. Dennis ist ganz aufgeregt. „Ja, so muß das auch sein. Jetzt warte noch eine Weile, denn an den anderen Haken sollen ja auch noch Fische anbeißen.“ Dennis schaut runter in das tief schwarze Wasser. Plötzlich ist seine ganze Hand in Bewegung. Sie rückt und zappelt. „Soll ich jetzt einziehen?“ Dennis schaut zu André rüber. „Ja, dann roll mal die Angelschnur schön langsam ein“. Je mehr Schnur Dennis aufrollt mit seiner Kurbel, um so schwerer und zappeliger wird seine Angel. Schließlich kommt der erste Haken an die Wasseroberfläche, und ein weißgrauer, fetter Hering zappelt daran. Gefräßig hat er den Haken verschluckt und versucht nun, mit hin- und her schlagenden Bewegungen ihn wieder loszuwerden. Der nächste Haken taucht auf, diesmal mit einem etwas kleineren Hering, es folgen weitere vier Heringe und nun rollt auch André seine zitternde Angel auf. Mit geschickten Handgriffen zeigt er Dennis, wie man den Haken schnell und schmerzlos aus dem Maul des Herings entfernt. Die Heringe landen, einer nach dem anderen, im Eimer. Und schon werden die Angeln wieder in die Tiefe gelassen. „Das macht ja richtig Spaß“. Dennis ist begeistert. Zwanzig Minuten genügen, um den Eimer zu füllen und für ein schönes Abendessen zu sorgen. Mittlerweile hat sich eine Schar von Heringsmöwen ums Boot herum versammelt. Deren feiner Geruchssinn hat sie hierher geleitet. Corinna wirft den kleinsten der Fische zu ihnen herüber und schon hebt sich die ganze Schar kreischend in die Luft und stürzt sich auf die Stelle, an der der Hering ins Wasser sinkt. Nur einer Möwe gelingt es, den Hering zu schnappen. Den Fisch quer im Schnabel, erhebt sie sich sofort aus dem Wasser. Noch während des Fluges, und unter den lautstarken Attacken der Konkurrenz, dreht sie geschickt den Fisch so, daß sie ihn mit einem Happs herunterschlingen kann. Nach drei Sekunden ist alles vorbei. „Die hat noch nicht einmal gekaut“ beklagt sich Corinna. Und weil das Schauspiel so interessant ist, werden dann noch weitere vier Heringe geopfert. Das ist ihnen dieses Naturerlebnis wert. Corinna studiert die neu entdeckte Möwenhierarchie. „Sieh mal, Dennis, hier vorn die Möwen sind wohl die, die den Ton angeben. Die anderen, weiter hinten, sitzen nur und schaukeln auf den Wellen. Die sind noch nicht einmal aufgeflogen, als ich wieder einen Hering geworfen habe.“ „Ja, ich weiß nicht, ob das etwas mit Hierarchie zu tun hat. Ich glaube, die erkennen nur einfach, daß sie diesmal keine Chance gegen die Konkurrenz haben, oder sie sind einfach nur satt. Beim nächsten mal sind die vielleicht wieder ganz vorn dabei.“ In Deutschland hat sich Corinna nie Gedanken darüber gemacht, wenn sie mal am Rhein ein paar Möwen gesehen hat. Wie sich doch plötzlich alles ändern kann. Auch hat sie gern in der Stadt gelebt, mit all den Geschäften und dem bunten Treiben. Jetzt, hier draußen in der unberührten Natur, würde sie am liebsten für immer mit André auf einem Hausboot leben und von einer Inseln zur nächsten fahren. „So, einpacken und weiter geht's, für heute haben wir genug Fisch, alles andere wäre Raubfischung“ André wickelt seine Angelschnur mit den Haken wieder auf die Papprolle. „Wäre was?“ Dennis sieht André fragend an. Andrés Deutsch ist ausreichend gut, so daß jeder weiß, was er sagen will, aber es kommen doch immer wieder Ausdrücke hinein, die er direkt vom Schwedischen ins Deutsche zu übertragen versucht, was nicht immer glückt. Ganz lustig eigentlich. „Na ja, wie heißt denn das auf Deutsch, wenn man mehr Fisch fängt, als man eigentlich zum Leben benötigt. Auf Schwedisch heißt das 'rovfiske'“ „Ja, vielleicht Überfischung oder räuberisches Fischen oder so etwas ähnliches. Wir wissen jedenfalls, was du meinst“. Corinna hält Dennis den Angelkasten hin, der schaut immer noch in Gedanken ins Leere, seine Lippen bewegen sich. „Hier, räum deine Sachen da hinein und stell den Kasten wieder in den Schrank.“ Corinna deckt den Eimer mit den Fischen gut ab und stellt ihn wieder unter die Spüle. Dort steht er gut während der weiteren Fahrt. André geht zur Ankerleine, beginnt mit kräftigen Zügen den Anker hochzuziehen, schaukelt ihn noch einmal hin und her im Wasser, um den Bodenschlamm abzuspülen, und verstaut dann Anker mitsamt Ankerleine im Ankerkasten. Jetzt schwingt er sich wieder auf den Fahrersitz und läßt den Motor an. Alle sitzen wieder auf ihren Plätzen und André steuert das Boot langsam durch die Passage. Wieder liegen rechts und links proper unterhaltene Sommerhäuser, manche könnte man sogar als Sommerresidenzen bezeichnen, so groß und feudal sind sie dort in die Natur eingebettet. Markisen sind an den Fenstern angebracht, weiter unten am Wasser, beim eigenen Bootssteg, gibt es noch ein schmuckes, kleineres Strandhaus, in dem wahrscheinlich Schwimmwesten und anderes Bootzubehör aufbewahrt wird, vielleicht sogar Wasserskier oder ein Wakeboard. Am Anleger liegt eine strahlend weiße, nicht gerade kleine Motoryacht vertäut. Draußen auf dem geräumigen Sonnendeck, das aufs Wasser hinaus gebaut ist, stehen an einer Seite Sonnenliegen mit hellen Auflagen, die zur Sonne gerichtet sind, auf der anderen Seite, in gemütlichen weißen Korbsesseln, sitzen vier Leute in luftiger, bunter Sommerkleidung, beim Kaffee. Aus einer Laune heraus winkt Dennis plötzlich hinüber zu ihnen, und die zwei Frauen winken spontan zurück. Nett. Weiter vor ihnen, hinter einem der nächsten Felswände hervor, kommt eine kleinere Segelyacht aus einem Seitenarm. Segelboote mit gehisstem Segel haben Vorfahrt. Lautlos zieht sie vor ihrem Bug dahin, mit leicht geblähtem Segel. Auf den Sitzbänken neben dem Ruder, hinter dem der Skipper steht, sitzen eine Frau und zwei kleine Kinder, alle in Segler-Schwimmwesten gekleidet. Ja, hier hat man Respekt vor dem Wasser. Im Schlepptau führen sie eine kleine Jolle mit. André hebt die Hand zum Gruß und der Skipper grüßt freundlich nickend zurück.
Читать дальше