Es dauert wie gesagt einige Zeit, bis Corinna die typisch deutsche und so offensichtliche Tüchtigkeit ein wenig in den Hintergrund stellt, statt dessen auch mal eine Kaffeetasse nimmt und sich bei einem Kollegen an den Schreibtisch setzt, um zu fragen, wie das Wochenende mit den Kindern war. Etwas, wofür sie in Deutschland meinte, niemals Zeit gehabt zu haben. Und je mehr sie von ihrer steifen Beherrschung ablegt, je offener werden hier die Kollegen. Sie kommen nun auch in ihr Zimmer und fragen nach Rat, wollen schnell mal etwas mit ihr diskutieren. Da erst lernt Corinna, daß nicht ein Mensch alles wissen kann und daß es keine Schande ist, selbst in Meetings an einen anderen Kollegen, der die besseren Sachkenntnisse hat, zu verweisen. Als Manager auf einen Mitarbeiter zu verweisen, empfand Corinna in Deutschland als reinen Autoritätsverlust. Der Chef mußte immer alles beherrschen. So war sie jedenfalls erzogen worden. Und nun ist sie hier auf dem besten Wege, eine totale Rundumerneuerung ihrer Wertvorstellungen zu durchleben. Spannend, bereichernd, aber durchaus nicht immer schmerzfrei.
André ist ihr eine große Hilfe in diesen kulturellen Dingen. Er weiß, wie die Strukturen funktionieren, wie man hier im Norden erfolgreich und im Team zusammenarbeitet. Und er glättet die Wogen, wenn sich Corinna wieder mal furchtbar aufregt und ihm abends mit dem Erlebten in den Ohren liegt.
Die kommenden Projekte löst Corinna gemeinsam mit einem Programmierer, was sie als sehr angenehm empfindet. Erstmals hat sie jemanden an ihrer Seite, mit dem sie Fragen erörtern kann und der mit ihr gemeinsam Verantwortung für das Resultat übernimmt. Jeden neuen Arbeitstag geht Corinna nun entspannt und mit Freude an. Der Stress, die Ängste, die sie täglich in Deutschland erlebt hatte, das gibt es hier erst gar nicht. Hier kann sie sich die Ruhe nehmen, die sie für ihre Arbeit braucht. So macht Arbeit wirklich Spaß. Nach wie vor kann sie es kaum fassen, und es fällt ihr immer noch schwer, die Zügel etwas lockerer zu lassen. Und selbst, wenn sie nur ein klein wenig gemütlicher arbeitet, als sie es gewohnt ist, ist sie immer noch ehrgeiziger und schneller als die Kollegen. Und so ist sie als die überaus tüchtige Deutsche beliebt und anerkannt, auch wenn sie sich selbst gar nicht mehr so tüchtig findet, jedenfalls gelassener als früher in Deutschland. Ein klein wenig des schlechten Gewissens nagt da immer noch irgendwo.
„Heute abend lade ich Euch zu einem besonders leckeren Abendessen ein, mit Vorspeise und allem drum und dran“. Corinna stürmt aufgeregt in die Wohnung. Dennis und André sind bereits daheim. „Ach ja? Hast du etwa eine Gehaltserhöhung bekommen?“ André strahlt sie an. Dennis kommt neugierig aus seinem Zimmer gesprungen. „Viel besser! Mein Vertrag wurde wieder um ein halbes Jahr verlängert, obwohl die Kollegin nächsten Monat aus dem Mutterschutz zurückkommt. Sie wollen mich behalten. Leider kann ich momentan noch keine Festanstellung bekommen. Aber vielleicht später“. „Mach dir keine Sorgen, Liebes, das wird sich alles regeln. Wir kennen doch die Firma in- und auswendig. Wenn du da mal Fuß gefaßt hast, wirst du auch weiterhin beschäftigt.“ „Ich brauche den Job ja auch. Ohne mein Gehalt würden wir es finanziell auch gar nicht schaffen.“ Corinna ist wirklich erst mal wieder erleichtert. Sie macht sich natürlich oft Gedanken darüber, was werden könnte, wenn die Firma ihren temporärer Vertrag eines Tages nicht mehr verlängern sollte. Die Lebenshaltungskosten in Schweden sind viel höher als in Deutschland, und auch mit Corinnas Gehalt können sie sich wirklich keine großen Sprünge leisten.
Andrés Exfrau geht es ähnlich und stillschweigend löst man wenigstens ein kleines Problem damit, daß bei jedem Wachstumsschub, den Andrés Sohn Andreas macht, André ein paar neue Kleidungsstücke für Andreas bezahlt, während Dennis dafür die zu klein gewordenen Kleidungsstücke erhält. Es schmerzt Corinna schon ein wenig, daß Dennis so nie zu neuen Kleidungsstücken kommt, zu solchen, die er vielleicht auch selbst gern mal hätte. Dennis läßt sich allerdings nichts anmerken, zumindest die ersten Jahre nicht. Er ist es ja auch nichts anderes gewohnt. In Deutschland hatte er die Hosen, Pullover und Jacken der Kinder seiner Halbschwester bekommen. Diese hatte einen unersättlichen Kaufrausch, und jedesmal, wenn die Kinderschränke wieder aus den Nähten platzten, stellte sie große Wäschepakete für Dennis zusammen, die einerseits von ausgezeichneter Qualität waren, darauf achtete sie stets, und andererseits nicht abgetragen waren. Corinna sah also keinen Grund, schon damals nicht, zusätzlich noch neue Kleidung zu kaufen. Und Dennis war noch jung und legte noch keinen Wert auf ausgesuchte Kleidung eines speziellen Labels.
Viel später aber, irgendwann, schwärmt er dann doch mal von einer schwarzen Lederjacke mit Popnieten und von schwarzen Lederstiefeln mit einer ziselierten silbernen Platte vor dem Schienbein, solchen Stiefeln, die Michael Jackson bei seinen Bühnenauftritten trägt. „Unmöglich“, und „niemals“, meint André, der im Grunde doch sehr konservativ ist. Corinna aber erkennt, daß Dennis hier erstmals einen sehnlichen Wunsch äußert, und egal, was sie selbst über seinen Wunsch denkt, und egal, ob André diese Kleidung als unpassend ansieht, so wird sie ihrem Sohn diesen Wunsch erfüllen. Er hat bisher schon auf so vieles verzichten müssen, ohne ein Wort des Klagens oder Herummeckerns. Andere Kinder, davon ist sie fest überzeugt und sieht es auch an Andrés Kindern sehr deutlich, hätten ihren Eltern längst die Hölle heiß gemacht. Und so fährt sie eines Tages mit Dennis in die Innenstadt und ersteht beides, Lederjacke und Stiefel, für nicht wenig Geld. Dennis strahlt und ist überglücklich. André ist überhaupt 'not amused' und seine Kinder bemerken hinter vorgehaltener Hand und sehr abfällig, daß Dennis wirklich so 'ganz anders' sei als sie. Corinna aber steht voll hinter ihm. Sie findet, ein Kind, Jugendlicher, muß die einzelnen Phasen der Pubertät ausleben dürfen, um sie unbeschadet hinter sich zu bringen, auch wenn die Eltern nicht immer mit allem einverstanden sind, was das Herz eines Jugendlichen erfreut.
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Das Leben in Schweden ist, besonders für Corinna, zu Beginn nicht einfach, aber trotzdem wunderbar. Corinna hat in André die Liebe ihres Lebens gefunden. Sie harmonieren so wunderbar zusammen. Sie arbeiten in derselben Firma, und André läßt es sich nicht nehmen, jeden Mittag von seinem Büro die knapp sechs Kilometer bis zu Corinnas Büro zu fahren, um mit ihr gemeinsam dort in der Kantine zu essen. Sie wollen einfach so oft wie möglich zusammen sein.
Die Wochenenden sind traumhaft. André fährt meistens schon am frühen Freitag nachmittag runter in den Bootshafen, um die von ihm für das Wochenende bereits eingekauften Lebensmittel im Boot zu verstauen. Wenn dann Corinna nach Hause kommt, packt sie schnell ein paar Kleidertaschen für sie beide und Dennis. Frische Handtücher und Bettwäsche sind auch immer dabei. Andrés Exfrau hatte vorher, während der früheren Familien-Bootstouren lieber Schlafsäcke verwendet. Jetzt freut André sich darüber, daß Corinna diese Gewohnheit nicht übernehmen will, sondern daß sie richtige Bettdecken und Bettwäsche viel gemütlicher und kuscheliger findet. Das Boot wird für sie zu einem eigenen gemütlichen Heim für die Wochenenden und auch für die Ferien.
Sie verlassen am späten Nachmittag den Hafen. Das Verdeck des geräumigen Motorbootes ist weit nach hinten geöffnet. Corinna sitzt im Windschatten neben André auf dem Fahrersofa, Dennis sitzt auf der anderen Seite des Ganges auf dem Beifahrerstuhl. Alle tragen Schwimmwesten. Damit ist André sehr genau und kennt kein Pardon. Sobald das Boot ruhig und geschmeidig das Hafengelände verlassen hat, drückt André das Hand-Gaspedal langsam herunter, das Boot beschleunigt nun stetig. Erst hebt sich die Nase des Bootes hoch aus dem Wasser, um sich dann mit zunehmender Geschwindigkeit langsam auf die Wasseroberfläche herunterzusenken. Nun ist die Marschgeschwindigkeit erreicht und das Boot gleitet mit 24 Knoten über das Wasser. Bewundernd und verliebt schaut Corinna hinüber zu André. Ihr gefällt, was sie sieht. Er liebt und beherrscht sein Boot, und gemeinsam werden sie nun viele schöne Stunden in diesem Boot verbringen können. „Gefällt dir mein Boot?“ André muß schon ein wenig lauter sprechen, weil das Verdeck offen ist und der Motor nicht weniger als 150 PS hat, was einige Geräusche verursacht.“Boot ist gut, bei uns nennt man das schon eher eine Motoryacht“, ruft Corinna in gleicher Lautstärke. „Bei uns ist es einfach ein Boot“. André lacht breit zu Corinna herüber und steckt sich dann seine Pfeife zwischen die Zähne. Mit seinem Vollbart und der Pfeife ist er ein richtiger Skipper, ihr Skipper.
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