„Guten Tag!“ Markus blieb vor dem Haus stehen.
Überrascht blickten die beiden Männer auf. „Tag, Markus! Moment noch, ich hab´ gleich Zeit für dich!“ Xaver wandte sich dem Fremden wieder zu.
„Buschur!“ Aufmerksam musterte der Franzose Markus. Unter buschigen Augenbrauen blitzten türkisfarbene Augen aus einem Meer von Lachfalten. Er strich sich durch den rötlich schimmernden Schnauzbart und über die breite Nase. Auf dem runden Kinn saß ein kleiner, brauner Fleck. „Din Büa?“
„Nein! Er flog mir vor die Werkstatt.“ Xaver lachte herzlich.
Der Fahrer hupte ungeduldig.
„Märssi un machas güat!“ Der Elsässer winkte und stieg in den Wagen. Die wohltönende, tiefe Stimme und die seltsamen Worte weckten etwas, das in Markus schlummerte wie eine Landschaft im Nebel.
„Du auch und komm bald wieder!“ Xaver winkte dem Wagen nach. „Jetzt hab´ ich Zeit für dich, Markus! Du willst dein Fahrrad holen?“
Markus nickte und streckte Xaver den Beutel hin. „Einen schönen Gruß von Tante Agathe und sie schickt das da!“
„Vergelts Gott!“ Xaver nahm die Stofftasche und schob ihn in die Werkstatt, wo das Rad blitzblank geputzt stand.
Begeistert strahlte Markus. „Vielen Dank!“
„Gern geschehen!“ Xaver wickelte das Päckchen aus. „Ein Nusskuchen!“ Er angelte ein Messer vom Regal, schnitt den Kuchen auf und wischte das Messer sorgfältig ab, bevor er es in die lederne Scheide zurücksteckte. „Nimm dir!“ Auf der Werkbank breitete er ein löchriges blaues Handtuch aus. Eine Brille mit einem dicken Horngestell kam zum Vorschein. „Die lag draußen. Ist das deine?“
„Danke!“ Markus steckte sie ein und griff nach einem Stück Kuchen. „Was ist Rollmaterial?“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Ich wollte Sie nicht stören.“
„Erst mal darfst du mich duzen und zweitens störst du mich nicht!“ Xaver rieb seine Nasenspitze. „Du hast das Gespräch mit dem Kollegen vorhin, einem Lokführer aus dem Elsass, mitbekommen! Unter Rollmaterial versteht man all das, was auf der Schiene rollt, also die Loks und die Wagen.“
„Du warst Lokführer?“ Markus biss in den Kuchen.
„Seit einigen Wochen bin ich zwar im Ruhestand, aber ich bin noch immer Lokomotivführer.“
„Was ist Oiowapo?“ Vom Kuchen brach ein Stückchen ab und fiel zu Boden. Markus bückte sich danach.
„Oiowapo???“ Xaver kratzte sich an der Stirn. „Du meinst wohl Eurovapor? Das ist die Europäische Vereinigung zur Erhaltung von Dampflokomotiven. Die Mitglieder wollen betriebsfähige Dampflokomotiven erhalten und sie weiter fahren. Inzwischen sind bereits viele Dieselloks eingesetzt. Dampfloks wird man im normalen Zugverkehr bald gar nicht mehr sehen.“
Ein Zug donnerte vorbei. Markus horchte auf. „Aber hier fahren doch noch Züge!“
„Ja natürlich!“
„Die Bahnstrecke sei jetzt endgültig stillgelegt. Das hast du gesagt!“
„Ich sprach von der Sauschwänzlebahn im Wutachtal.“ Xaver strich sich mit den Fingern durch das Haar.
„Sauschwänzlebahn klingt lustig!“
„Die interessante Strecke soll als Museumsbahn erhalten bleiben.“
„Und du wirst eine Lokomotive fahren? Mit einem Zug hintendran?“
Nachdenklich betrachtete Xaver die dunkle, ölige Mütze, die neben der Tür am Haken hing. „Eine Lok fahre ich vielleicht wieder - mit einem Zug hinten dran.“
Von der Kirche hallten Glockenschläge über das Tal. Markus sprang auf. „Ich muss nach Hause! Auf Wiedersehen, Xaver! Darf ich mal wiederkommen?“
Xaver schmunzelte. „Natürlich darfst du wiederkommen, wann immer du willst!“
Seit Wochen fieberten alle dem Schulkonzert entgegen. Mit einer weißen Seidenbluse stand Carla vor dem Spiegel in der Garderobe. Sie hielt sich eine rote, danach eine hellblaue Bluse an und verschwand wieder in ihr Zimmer. Markus räumte seinen Tisch auf. Flocken wirbelten vor dem Fenster. Die Dämmerung brach herein. Am Abend lag Schnee. Carla fuhr vorsichtig nach Donaueschingen. Beim Gymnasium parkten sehr viele Autos. In einer Seitenstraße fand Carla einen Parkplatz.
In der Aula drängten sich Schüler, Lehrer und Eltern. Zwei Plätze am Rand waren auf der einen Seite noch frei. Carla bestand darauf, dass sich Agathe und Markus hinsetzten. Beschwingt lief sie weiter, begrüßte jemanden und setzte sich.
Ein Herr betrat das Podium und hieß die Zuhörer willkommen. Das Gemurmel verebbte. Vor Markus knutschte ein Pärchen. Er stand auf, doch Tante Agathe zog ihn auf den Stuhl zurück. Der Dirigent hob den Taktstock. Das Schulorchester spielte in voller Besetzung und bekam viel Beifall.
Schritte trippelten und das Podium knarrte. Der Schulchor stellte sich auf. Markus spähte zwischen den Köpfen hindurch und entdeckte fast nur Mädchen. Das Orchester begleitete die hohen Stimmen. Begeistert applaudierte das Auditorium nach jedem Stück.
Im Finale wetteiferte der Chor mit dem Orchester. Applaus brandete auf und die Musiker verbeugten sich. Das Publikum erhob sich und die ersten Zuschauer strebten zum Ausgang. Markus huschte auf die andere Seite der Aula.
„Hallo Markus! Ihr seid doch gekommen? Das finde ich ganz toll!“
„Hallo Alberta!“
„Deinen Vater habe ich gar nicht gesehen!“
„Der ist nicht da!“
„Ist der immer unterwegs? Was macht der eigentlich?“
„Mein Vater ist – in führender Stellung.“ Ungeduldig schaute sich Markus um. „Meine Mutter muss hier irgendwo sein.“
„Die ist dahinten bei der großen Treppe und quatscht mit dem Schultz. Die haben die ganze Zeit getuschelt und gekichert.“
„Woher weißt du das denn?“
„Ich saß mit meiner Mutter ja fast hinter denen.“ Alberta drehte eine Haarsträhne um den Finger. „Hat die was mit dem?“
„Quatsch!“ Markus jagte zur Treppe und stieg die Stufen hinauf. In einem Winkel entdeckte er seine Mutter. Ihre Wangen waren so rot wie ihre Bluse. Sie kicherte und hielt sich die Hand vor den Mund. Der Studienrat knöpfte sich das elegante Jackett auf und neigte sich leicht zu ihr. Sein seidiges hellbraunes Haar fiel ihm ins Gesicht. Lässig strich er es aus der Stirn und flüsterte Carla etwas ins Ohr. Beide prusteten los. Sie drehte sich dem hochgewachsenen Kollegen zu und ließ die Finger durch ihre dunklen Locken gleiten. Ihr Blick streifte Markus und sie winkte ihm zu.
Der Lehrer grüßte Markus, beugte sich lächelnd zu Carla und raunte ihr etwas ins Ohr. Sie lachte und schlenderte aus der Ecke. An der Tür drängten sich die Konzertbesucher. Mittendrin bahnte sich Agathe einen Weg durch die Menge.
Markus schritt die Stufen hinunter direkt auf Carla zu. „Was hast du mit dem Schultz?“
„Wir haben über Fontane geredet!“ Carla lächelte.
„Über was?“
„Über einen Roman von Theodor Fontane!“
„Liebst du ihn?“
„Wen?“
„Den Schultz!“
Entgeistert starrte sie ihn an und schnappte nach Luft. „Wie kommst du denn darauf?“
„Ist er wie Papa?“
„Los beeil dich! Es zieht an!“ Carla biss die Lippen zusammen, packte Markus an den Schultern und schob ihn in die Kälte hinaus. Agathe erwartete sie am Auto. Carla schloss den Wagen auf und setzte sich ans Steuer. Markus ließ sich auf den Rücksitz fallen. Agathe stieg ein. Der Motor heulte auf. Carla drückte den Schalthebel nach vorn und steuerte aus dem Parkplatz. Auf der glatten Straße rutschen die Reifen. Langsam fuhr Carla nach Hause.
Eis und Schnee bedeckten die Landschaft. Im Haus duftete es nach Zimt, Nelken, gerösteten Nüssen und Weihnachtsplätzchen. Die letzten Klassenarbeiten waren geschrieben.
„Willst du nicht lieber in der nächsten Woche fahren?“ Agathe nahm Carla das Geschirr ab.
„Nein, Agathe! Ich will heute Nachmittag nach Freiburg. Die B 31 ist gut gestreut. Wer weiß, wie viel Schnee noch kommt.“
Читать дальше