„Ich bin im Dorf unten beim Xaver vom Rad geflogen.“
„Beim Xaver?“
„Ja, er hat mich raufgebracht, aber mein Rad steht noch drunten. Ich darf´s am Montag wieder holen.“
„Abmarsch in die Küche!“
„Ich kann doch raufgehen.“
„Damit deine Mutter der Schlag trifft, wenn sie dich so sieht? Nee, mein Lieber!“ Sie fasste ihn an den Schultern und schob ihn in die Küche. „Klamotten runter!“ Unter ihrer hellblauen Kittelschürze trug sie ein dunkelrotes Strickkleid. Silbergraue Locken fielen in ihr rundes Gesicht. Die graugrünen Augen strahlten. Sie betrachtete das zerrissene Hosenbein. „Zeig mal dein Knie!“ Vorsichtig befühlte sie mit der Hand die Schramme. „Du bist ja eiskalt, Bub!“ Sie verschwand in die Abstellkammer unter der Treppe und kam mit einem graubraunen Etwas wieder, das entfernt an eine Hose erinnerte. Markus wollte Reißaus nehmen, doch sie drückte ihm das Bündel in die Hand. „Anziehen!“
„Das kratzt!“
„Das ist Wolle!“
Widerwillig stieg Markus in das altmodische Beinkleid. Er angelte aus seinen Jeans das Plastiketui. Hastig wusch er es ab und verdrückte sich auf die beheizte Bank am Kachelofen in der Stube. Er lehnte sich an die goldgrünen Kacheln und zog das Papier aus dem Etui. Kassenbons und eine Fahrkarte nach Mulhouse fielen heraus. Markus strich den Zettel glatt und entzifferte die krakelige Handschrift: Sauschwänzlebahn 25.9. Zollhaus Treffen mit Rita und Kurt. Enttäuscht packte er alles wieder ein und steckte das Etui hinter den Hosenbund.
Die Treppe knarrte. Kurz danach fiel die Tür zur Scheune heftig ins Schloss und Carla lief in die Küche zu Agathe. „Markus ist noch immer nicht da!“
„Doch, Carla! Der ist in der Stube!“
„Um Gottes willen, was hat der denn angestellt! Der Anorak sieht ja aus und die Jeans zerrissen!“
„Die Sachen wasch ich und auf die Jeans nähe ich einen Flicken. Reg dich nicht so auf, Carla. Er ist im Nebel gestürzt, aber es ist ihm nichts passiert.“
„Das Fahrrad habe auch nicht gesehen.“
„Das steht noch beim Xaver.“
„Xaver?“
„Ein lieber Mensch, Carla, kein Grund zur Sorge.“
Mit beiden Händen fasste Carla ihre dunklen Locken zusammen und flocht sie zu einem Zopf. Eine Strähne löste sich und ringelte sich über den hellblauen Rollkragenpulli. Von ihrer schwarzen Hose zupfte sie ein paar Wollfusseln und warf sie in den Mülleimer. Sorgfältig wusch sie sich die Hände.
Auf der beheizten Ofenbank drehte sich Markus auf den Bauch und vergrub sein Gesicht in den Armen. Aus dem Dunkel tauchte er in ein Meer voller Farben, die ein Strudel in die Tiefe riss. Große Flecken wurden zu langen Bändern und verwirbelten als Fäden in einem schwarzen Loch. Aus der Mitte des Abgrunds leuchtete feuriges Rot. Markus schien in das aufgesperrte Maul eines Drachens zu stürzen. Das Ungeheuer schnappte nach ihm. Die silberglänzenden Zähne schepperten. Markus fuhr hoch.
Die Gabeln in Carlas Hand schlugen gegeneinander. „Wo hast du eigentlich deine Brille, Markus?“
„Ich hab sie verloren!“
„Wie willst du jetzt deine Schularbeiten machen?“
„Es wird gehen!“
„Na, hast du schön warm?“ Agathe kam mit der Auflaufform aus der Küche. Die gebräunten Brotstückchen über den Äpfeln dufteten herrlich. Markus glitt von der Ofenbank.
„Markus, aufwachen! Wir haben verschlafen! Mein Wecker ist stehen geblieben.“ Seine Mutter rüttelte ihn aus dem Schlaf. „Schnell waschen und anziehen! Tante Agathe hat dir unten eine Tasse Schokolade gerichtet. Ich nehm deine Schultasche und fahr den Wagen raus.“
Markus tapste ins Bad, fuhr mit den nassen Händen übers Gesicht, kleidete sich an und polterte die Treppe hinunter. In der Küche duftete es nach Harz, gekochter Milch, Kakao und Leberwurst.
„Komm Markus! Setz dich zwei Minuten, so viel Zeit habt ihr noch!“ Agathe stellte ihm die Tasse hin. Vorsichtig öffnete sie das Ofentürchen und legte Holz auf die Glut.
Schluck für Schluck trank Markus den Becher leer. Er schnappte seine Jacke und rannte nach draußen.
„Macht’s gut und passt auf!“ Agathe schloss die Flügel des Scheunentors.
Die Scheibenwischer quietschten über die Frontscheibe. Carla schaltete sie aus, doch die Tropfen bildeten sofort wieder ein Muster auf dem Glas. Die grauen Wolken hingen schwer über dem Tal. Durch Hüfingen drängelten sich Autos und Radfahrer. Hinter dem Städtchen ratterte ein Zug vorbei und verschwand zwischen den Häusern von Donaueschingen. Die Straße stieg zur Brücke über die Gleise an und schien direkt in den Fürstlich Fürstenbergischen Park zu führen. Erst im letzten Moment wich sie in einer scharfen Linkskurve den mächtigen Bäumen aus. Vom Bahnhof zum Schloss hasteten Fußgänger über die Straße. Radfahrer flitzten zwischen den Autos hindurch. Die Türme der barocken St.-Johann-Kirche ragten in den trüben Himmel.
„Siehst du den Treppengiebel auf der linken Straßenseite? Hier war die Lateinschule, die Fürst Josef Wenzel 1778 gründete.“ Carla bog in eine Seitenstraße ein. Markus zupfte an seinem Ärmel herum und schnitt Grimassen. An dem uralten Gymnasium schlenderte ein verliebtes Pärchen vorbei. Ein paar Straßen weiter hielt sie vor dem nüchternen grauen Betonkasten des neuen Gymnasiums. „Bis heute Mittag!“
„Tschüss!“ Markus sprang aus dem Auto und hetzte ins Klassenzimmer.
„Das Lehrersöhnchen ist ja auch schon da!“ Ferdi schlug sich auf die Schenkel.
Die Tür flog auf. Herr Hasenkiel legte seine Mappe aufs Pult. „Guten Morgen! Die mehrgliedrigen Ausdrücke haben wir bereits durchgenommen. Wo begegnen uns solche Ausdrücke?“ Er zeichnete ein Gitternetz auf die Tafel und schrieb Zahlen in einige Felder. „Na, was ist das? Ferdinand!“ Der kaute an seinem Stift und betrachtete die langen, festen Zöpfe der zierlichen Iris, die vor ihm saß. „Ferdinand!“ Der Mathelehrer klopfte aufs Pult. Der kräftige Junge war zusammengezuckt und erhob sich langsam. Völlig entgeistert blickte er den Lehrer an. „Ferdinand, du sollst nicht träumen! Was habe ich hier an die Tafel gemalt?“ Der Bursche schwieg. „Setz dich und pass endlich auf.“ In der letzten Reihe meldete sich ein rothaariges Mädchen. „Renate!“
„Das ist ein Kontenblatt!“
„Richtig! Wer kann den letzten Kontostand ausrechnen? Jan! Komm an die Tafel!“ Der Schüler schlich zur Tafel und starrte sie an. Herr Hasenkiel schüttelte den Kopf. „Ferdinand! Wie lautet das Ergebnis? Also, 35 plus 25 ist?“ Ferdinand schwieg. „Wie willst du später einmal ausrechnen, wie viel noch auf dem Firmenkonto ist?“
„Das macht das Fräulein Riedlinger bei uns!“ Die ganze Klasse brüllte vor Lachen. Ferdinand lief rot an und schaute wütend in die Runde.
„Setz dich! Ich glaube nicht, dass dein Vater genauso denkt. Jan, du kannst dich auch setzen. Markus, was muss nach der letzten Einzahlung bei Kontostand stehen?“
„60!“
„Richtig! Nehmt eure Bücher raus und schlagt Seite 43 auf!“ Zügig nahm der Lehrer die Aufgaben durch, bis es läutete.
„Hast du deine Brille vergessen?“ Alberta stützte sich neben Markus auf den Tisch.
„Nein, verloren!“
„Ach, du Schussel!“
Frau Heberlin teilte die Arbeitshefte aus und begann zu diktieren. Eilig kritzelte Markus die Worte zwischen die Linien. Als es zur Pause läutete, sammelte die Englischlehrerin die Hefte ein und verschwand.
„Und?“ Alberta lehnte sich zu ihm herüber. „Wie ging´s dir?“ Sie rieb sich über die Nase voller Sommersprossen. Ihre hellbraunen, seidigen Haare ringelten sich aus der Haarspange. „Hast du die Sprache verloren oder redest du nicht mehr mit jedem?“
„Weiß nicht!“
„Was weißt du nicht?“
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