Im dritten Hauptteil erarbeitet Lauterburg schließlich «die Bedeutung des Begriffes Charisma für die praktische Theologie».[28] Er skizziert sie zunächst für die «principielle Lehre von Wesen und Erfordernissen des geistlichen Amtes» und entwickelt ein Verständnis der inneren Berufung zum kirchlichen Amt ( vocatio interna ad ministerium ), die sich vollständig durch die charismatische Ausrüstung konstituiert. Die Vocatio könne nicht das Produkt eigener Frömmigkeit oder Bildung, sondern müsse eine freie Gabe des Geistes sein, die zugleich eine besondere Aufforderung an den Menschen enthält. «Das ist aber eben das Charismatische.»[29] Weiterhin lässt Lauterburg von der Charismenlehre her «Licht auf die drei großen Principienfragen»[30] der Praktischen Theologie fallen. Sie kläre die Frage nach einem «echt reformatorischen […] und […] praktisch verwertbaren Kirchenbegriff»[31], nach der «Stellung des geistlichen Amtes»[32] und dem Verhältnis zur römisch-katholischen Theologie. Abschließend skizziert Lauterburg ein Verständnis von Praktischer Theologie als «Charismatik»[33], «als die Lehre von den durch die Charismen vermittelten Thätigkeiten zur Erbauung der Gemeinde Christi»[34].
Insgesamt geurteilt, bietet Lauterburgs Studie viele wertvolle Einsichten, die von der Praktischen Theologie bisher kaum wahrgenommen wurden.[35] Nach über 100 Jahren bedürfen sie allerdings einer kritischen Prüfung, Aktualisierung, Ergänzung und Bewährung im Kontext gegenwärtiger praktisch-theologischer Ansätze und Fragestellungen.[36]
Silke Obenauers Dissertation «Vielfältig begabt», die nach der Fertigstellung und Einreichung der eigenen Untersuchung erschien (2009), ist seit Lauterburgs Impuls die erste praktisch-theologische Monographie, die sich intensiver mit der Thematik befasst.[37] Sie entwickelt ausgehend von gemeindepraktischer Literatur eine Theorie der gabenorientierten Mitarbeit in der evangelischen Kirche. In diesem Zusammenhang rekurriert sie exegetisch und systematisch-theologisch auf die «Gaben»; der Begriff «Charisma» bzw. «Charismen» wird von Obenauer weitgehend gemieden. «Gabe» definiert sie als «eine vom dreieinigen Gott aus Gnade jedem Christen individuell gegebene Begabung…, die von Gott je aktuell und ereignishaft in Dienst genommen wird und derart vom Empfänger zur Ehre Gottes und zum Wohl des Menschen eingesetzt wird.»[38] Der Zielrichtung der Dissertation entsprechend konzentriert sich Obenauer auf gemeindepraktische und kirchentheoretische Fragen. Die Auswahl der Literatur und die Perspektive ihrer Bearbeitung orientiert sich an der zu entwerfenden Theorie der gabenorientierten Mitarbeit, so dass die grundlegende Bedeutung der «Gaben» für den untersuchten (oikodomischen) Teilbereich ersichtlich wird. Die vorliegende Arbeit öffnet einen breiteren Fragehorizont. Sie rekonstruiert die Rezeption der Charismenlehre in zwei Teildisziplinen der Praktischen Theologie und fragt grundsätzlich nach ihrer praktisch-theologische Relevanz. Obernauers Studie bietet aber anregende Impulse und wichtige Einsichten, die eine erfreuliche Kongruenz zur vorliegenden Arbeit aufweisen. Trotz jeweils unterschiedlicher Akzentuierung entsprechen sich nicht nur die Versuche einer trinitarischen Konzeption der Charismenlehre, sondern auch die Betonung des habituellen und dynamisch-ereignishaften Moments der Charismen.[39]
1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, Charisma als einen Grundbegriff der Praktischen Theologie zu erweisen. Die Spezialisierung, die die Praktische Theologie seit ihrer Etablierung als wissenschaftliche Disziplin erfahren hat, nötigt zu einem exemplarischen Vorgehen.[40] Die praktisch-theologische Relevanz der Charismenlehre wird zunächst im Kontext der Pastoraltheologie und Oikodomik validiert. In diesen beiden Teildisziplinen ist es bereits seit Mitte des 19. bzw. 20. Jahrhunderts vereinzelt zu einer Rezeption der Charismenlehre gekommen, von der aus sich ihre Bedeutung erheben und im Kontext gegenwärtiger Fragestellungen bewähren lässt. In der oikodomischen und pastoraltheologischen Relevanz der Charismenlehre spiegelt sich ihre grundsätzlich praktisch-theologische Bedeutung wider. Durch einen Transfer der Ergebnisse in weitere Teildisziplinen und ins Gebiet der praktisch-theologischen Prolegomena lässt sich Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie erweisen.
Die Arbeit gliedert sich in fünf Argumentationsschritte:
1. Ein theologiegeschichtlicher Abriss skizziert die zunehmende theologische Marginalisierung der Charismenlehre und die Wiederentdeckung ihrer theologischen Relevanz im 19. und 20. Jahrhundert ( Kapitel 2 ). Dabei werden zum einen Fehldeutungen erkennbar, die teilweise bis in die Gegenwart wirksam sind und die praktisch-theologische Wahrnehmung der Charismenlehre trüben. Zum anderen zeigen sich Einsichten und offene Problemdiskussionen, die für die weitere Untersuchung von Bedeutung sind und einer weiterführenden Reflexion bedürfen.
2. Die beiden folgenden Kapitel rekonstruieren die Rezeption, die die Charismenlehre in der Oikodomik ( Kapitel 3 ) und in der Pastoraltheologie ( Kapitel 4 ) erfahren hat. Anhand von jeweils fünf repräsentativen Positionen wird der Beitrag erhoben, den die Charismenlehre im Kontext der jeweiligen Argumentation zu praktisch-theologischen Fragestellungen leistet und an dem sich ihre oikodomische bzw. pastoraltheologische Relevanz ablesen lässt.
3. In der praktisch-theologischen Rezeptionsgeschichte zeigen sich problematische Implikationen eines biblisch-theologisch unzureichend geklärten Charismabegriffs. Daher wird als Zwischenschritt eine kriteriologische Vergewisserung erforderlich, die die Grundlinien der Charismenlehre biblisch-theologisch rekonstruiert ( Kapitel 5 ). Sie intendiert keinen eigenständigen exegetischen oder systematisch-theologischen Forschungsbeitrag, sondern zielt auf einen praktisch-theologischen Charismabegriff, der Vereinseitigungen und Defizite in der gegenwärtigen Rezeption überwindet und die Frage nach der oikodomischen bzw. pastoraltheologischen Relevanz der Charismenlehre einer umfassenden, kriteriologisch vergewisserten Antwort zuzuführen vermag.
4. Die Ergebnisse der ersten drei Arbeitsschritte werden gebündelt, kritisch-konstruktiv weiterentwickelt und in die aktuelle oikodomische ( Kapitel 6 ) und pastoraltheologische Diskussion ( Kapitel 7 ) eingebracht. Die praktisch-theologische Relevanz der Charismenlehre wird anhand des Beitrages erhoben, den sie zum vertieften Problembewusstsein bzw. zur kreativen Lösungsfindung bei umstrittenen oder auch vernachlässigten Fragen beisteuert. Die Arbeit zielt dabei nicht auf die Entwicklung einer eigenständigen Gemeindeaufbaukonzeption oder Pastoraltheologie. Sie benennt aber ausgehend von der Charismenlehre regulative Prinzipien, die sich als kritisch-konstruktive Theorieelemente in eine solche einfügen lassen.
5. Das letzte Kapitel versucht, die praktisch-theologische Bedeutung der Charismenlehre in weiteren Subdisziplinen (Homiletik und Poimenik) und im Gebiet der praktisch-theologischen Prolegomena exemplarisch zu verifizieren ( Kapitel 8 ).
Charisma erweist sich als Grundbegriff der Praktischen Theologie. Charisma wird nicht zum Zauberwort, das der Theorie alle Probleme löst oder der Praxis oikodomischen und pastoralen Erfolg garantiert. Die Charismenlehre eröffnet aber eine Reflexionsperspektive, die der Theorie und der Praxis den Blick auf die Promissio des Geistes lenkt, der in Freiheit und Treue «einem jeden zuteilt, wie er will», und «alles in allen» wirkt (1Kor 12,6.11). Damit wird die Charismenlehre zu einem integralen Bestandteil einer Praktischen Theologie, die das biblische Zeugnis nicht als gesetzliche Norm, sondern als Verheißungsperspektive «wahr-nimmt». Der, «der ist, der war und der kommt» (Offb 1,4), ist aller Theorie und Praxis des christlichen Glaubens voraus und will doch in ihr Gestalt gewinnen.[41]
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