Angie hätte so weitermachen können. Einmal den Stuhlkreis entlang. Keiner von den Teilnehmern hatte ein wirkliches Problem. Sie alle waren einfach nur unfähig, ihr Leben zu bestreiten und suhlten sich dabei, in dem Mitleid, das man ihnen hier, in Form von Verständnis, entgegen brachte und das auch noch aus dem Mund eines Doktors kam. Vielleicht war das der aufbauende Kick, den diese Diskussionen bringen sollte.
Angie versuchte jedenfalls, sich diesem zu entziehen und bisher war ihr dies auch erfolgreich gelungen.
Sie war dreiunddreißig und man hatte sie vor die Wahl gestellt. Entweder hierher oder Sozialstunden. Das alles nur, weil sie ihrem Vorgesetzten eine geknallt hatte.
Das Arschloch hatte es verdient gehabt und die beiden Chefs davor ebenso.
Naja wie auch immer. Die Frau vom Arbeitsamt hatte das nicht so gesehen und die Anzeige ihres Vorgesetzten, hatte letztlich dazu geführt, das Angie bei Dr. Schwarz gelandet war.
Jetzt saß sie hier. Versuchte die Zeit totzuschlagen und musste dabei Menschen zuhören, die nicht ansatzweise verstanden hatten, was es bedeutete echte Probleme zu haben.
»Ich denke der Punkt ist, das jeder Mensch die Zeit bekommen sollte erwachsen zu werden, die er benötigt.«
Angie horchte auf. Benjamin Fink hatte das gesagt. Er saß links neben ihr und roch unangenehm nach Moschus. Nein, er stank danach. Schwebte in einer Wolke, die mittlerweile auch Angie eingefangen hatte. Benjamin war mittelgroß und besaß einen leichten Bauchansatz. Er war Ende dreißig und seine Frau hatte ihn sitzen gelassen. Seitdem hatte er sein Leben nicht mehr im Griff.
Dr. Schwarz brummte leise. »Wie lange benötigt denn ein Mensch überhaupt, um erwachsen zu werden?«
»Sie meinen, wieviel Zeit er benötigt, um das kindliche in sich abzulegen und zwar so, dass dabei keine seelischen Schäden entstehen?«
»Ein Leben lang!«, stellte Susann fest.
»Glauben sie denn meine Damen und Herren, das ihre Probleme bereits im jugendlichen Alter entstanden?«, fragte Dr. Schwarz nachdenklich.
Benjamin fing plötzlich neben Angie an, nervös auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. So als könnte er es kaum abwarten, etwas zu sagen, von dem er aber in Wahrheit, nicht wirklich überzeugt zu sein schien.
Dr. Schwarz, dem Benjamins Nervosität ebenfalls auffiel, blickte ihn mit einem Mal auffordernd an und Benjamin hielt erschrocken inne.
»Ich«, stotterte er, räusperte sich und sagte dann: »Ich habe ein Problem mit Frauen. Vielleicht liegt es daran, dass meine Mutter eine Alkoholikerin war. Wenn ich mich an sie zurück erinnere, dann sehe ich sie nur mit einem Glas in der Hand. Es ekelt mich an, wenn ich dieses Bild vor mir sehe. Ich denke, ich projiziere diese Ablehnung auf jede Frau, die mir zu nahe kommt. Aus dem Grund, hat mich auch meine Frau verlassen.«
Dr. Schwarz nickte zufrieden, während Angie plötzlich eine innere Wut in sich aufsteigen fühlte. Zum ersten Mal, seit sie hier war, fühlte sie sich dazu berufen, in die Diskussion mit einzugreifen. Dabei sträubte sich ihr inneres dagegen, während ihr Mund bereits längst das aussprach, was sie in ihrem inneren dachte.
»Deine Frau ist abgehauen weil du ein Idiot bist!«, platzte Angie verärgert heraus.
Plötzlich wurde es vollkommen still im Raum und alle Augen lagen auf Angie. Sie schaute die anderen verständnislos an. Die Wahrheit war doch, das sie nur das ausgesprochen hatte, was fast jeder hier im Raum dachte.
Benjamin fing immer wieder damit an und das, obwohl jeder längst verstanden hatte, das seine Frau nur abgehauen war, weil er seine Fehler ständig bei ihr gesucht hatte. Jeder hier im Raum hatte das in den letzten vier Sitzungen verstanden und trotzdem hatte niemand etwas gesagt, sondern jedes Mal nur mitfühlend geseufzt, wenn Benjamin am Ende seiner Ausführungen angekommen war. Aus diesem Grund konnte Angie die Bestürzung der anderen nicht verstehen und fügte noch verärgert hinzu: »Ihr weint euch hier aus, um eure eigenen Fehler von euch wegzuschieben. Du glaubst, dass deine Mutter daran schuld ist, dass deine Frau weg ist. So ein Quatsch. Sie hat deine wehleidige Tour nicht mehr ertragen. Susann lässt sich von jedem schmierigen Typen ficken, nur weil ihr Vater früher in einem Bordell arbeitete und Peter bekommt keinen hoch, weil er seinen Schwanz zwischen seinen fetten Beinen nicht finden kann. Nimm ab!«
Peter Mengk, der mit seinen Bermudahosen neben Dr. Schwarz saß, lief im Gesicht rot an.
»Ihr diskutiert darüber, wie lange ein Mensch braucht um erwachsen zu werden. Die Frage ist doch, wieviel Zeit man ihm dafür lässt. Es gibt Menschen, die bekommen dafür gerade einmal drei Wochen Zeit.«
»Ich…«, fing Peter Mengk an. Dabei schien sein Kopf zu glühen, so hochrot, wie er war. Doch Dr. Schwarz hob seinen linken Arm, vor Peters Gesicht, um ihn auszubremsen und sagte dabei: »Jeder soll hier seine Meinung äußern und nachdem Angela bisher an keiner unserer Diskussionen teilgenommen hat, wollen wir ihr ihre Meinung nicht verwehren.«
»Sie hat mich beleidigt!«, rief Peter Mengk, dessen hochroter Kopf, jetzt fast zu platzen schien.
»Ich finde die Aussage, das ich ein Idiot bin, auch nicht sehr amüsant.«, unterstützte Benjamin ihn dabei.
Dr. Schwarz nickte zustimmend und forderte Angie auf, »Vielleicht kann Angela uns ihre Feststellung genauer begründen.«
Angie schluckte.
Ihr würde plötzlich bewusst, dass sie mit ihrer spontanen Reaktion die Aufmerksamkeit im Raum auf sich gezogen hatte. Die Blicke der Anwesenden klebten an ihr, wie ein ekelhafter Schleim, der sie daran hinderte, sich aus dieser unangenehmen Situation herauszuwinden. Von Sekunde zu Sekunde, wurde ihr mehr bewusst, das man auf eine Rechtfertigung, für ihre beleidigende Aussage wartete und schließlich sagte Angie: »Ihr redet euch Probleme ein und hofft dabei, die damit verbundenen Ängste zu überwinden. Doch keiner von euch weiß, was es heißt, wirkliche Angst zu haben. Etwas durchzustehen was dich verändert.«
Niemand sagte etwas. Stattdessen schienen alle darauf zu warten, das Angie weiter redete.
Sie schluckte nur.
Dr. Schwarz, der als Leiter dieser Gruppe erkannte, das Angie sich an einem Punkt befand, an dem eine reale Chance bestand, dass sie sich öffnen würde, durchbrach die Stille im Raum, die nur von der kleinen Fliege gestört wurde, die wieder über ihren Köpfen hinweg flog.
»Vielleicht willst du uns von deiner Vergangenheit erzählen. Möglicherweise verstehen die Anderen in der Gruppe dann besser, was dich quält.«
»Mich quält nichts. Nicht mehr.«
»Du bist aggressiv, verschlossen und….«
»Ich lasse mir nur nicht alles gefallen.«, Angie wurde laut. Ihre Stimme klang verärgert.
»Also was hat dich verändert?«
Alle starrten sie an, während sie völlig unbeeindruckt die Beine übereinander schlug, die Hände um ihr linkes Knie faltete, sich räusperte und dann sagte: »Das Leben. Das Leben bestimmt darüber, wie lange wir Zeit bekommen, um erwachsen zu werden. Mit Problemen fertig werden, die…«
»Die was?«
Angie schwieg. Blickte an den Anwesenden entlang und sagte dann: »Es sind die anderen, die unser Leben bestimmen.«
»Welche Anderen?«
Angie nahm ihre linke Hand aus der Umklammerung um ihr knie und hob den Arm. »Einfach jeder, mit dem du in Kontakt kommst. Wenn dich zum Beispiel jemand schlägt, dann wirst du zukünftig versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen. Oder du schlägst beim nächsten mal zurück. In beiden Fällen, hat dieses Erlebnis aber Einfluss auf dein weiteres Verhalten. Denn du wirst zukünftig vorsichtiger sein, wenn du mit solchen, oder ähnlichen Menschen in Kontakt kommst.«
»Okay, ich glaube ich verstehe was du meinst.«
»Was gibt es daran nicht zu verstehen?«, fluchte Angie verärgert.
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