„Dann bist du ein Sagenwesen?“
„Wenn du es so nennen willst. Zumindest findet man einiges über mein Volk in den Überlieferungen.“
Sie erinnerte sich gut daran. Diese Wesen sollten ohne Flügel fliegen können und große Macht über das Wetter Paxias haben. Sie bestimmten, wann die Sterne Paxias zu sehen waren und wann nicht. Es war an ihnen, den Himmel mit Wolken zu bedecken und den Regen zu beherrschen – wenn die Wesen des Windes ihnen mit einem Sturm nicht die Pläne zunichte machten und die Wolken wegfegten.
Ihre gelehrte Seite drängte ihr unzählige Fragen auf und erweckte ihr Interesse. Doch noch war ihr Misstrauen größer, erst mussten die Unklarheiten beseitigt werden.
„Wie bin ich hierher gekommen? Und was ist mit mir? Was hast du mir angetan?“
Iain zuckte betroffen zusammen. Sie traute ihm keinen Moment, dachte noch immer, sie wäre unter Feinden. Und das war das Letzte, was er wollte. Es war an der Zeit, dieses Missverständnis zu beseitigen.
„Ich habe dich bewusstlos gefunden, nachdem der Sturm vorbei war. Du schienst in Lebensgefahr und große Schmerzen zu haben, also habe ich dich hierher gebracht, damit unsere Medizinerin dir helfen konnte.“
„Der Sturm“, murmelte sie, dann war ihre Erinnerung doch richtig. Der Tornado hatte sie durch die Luft gewirbelt und dann ganz unvermittelt aufgehört. Sie war über einem Wald abgestürzt …
„Heißt das, du hast mich von Paxia fortgebracht!? Ich muss sofort wieder zurück!“
Aufgebracht wand sie sich unter ihm, versuchte sich aus seinem Griff zu lösen. Iain reagierte, indem er sie fest ins Bett drückte und seine Arme gegen ihre Schultern drängte.
Sein Gesicht war dicht über ihrem, dass sie seinen Atem auf ihren Wangen spürte, während er aus eindringlichen grauen Augen ihren Blick suchte.
Fasziniert hielt sie inne, ihr fiel ein, dass in einer der ältesten Überlieferungen vermerkt war, dass Himmelswesen ihre Gefühle nicht verbergen konnten, da ihre Augen, gleich dem Himmel, mit den Stimmungen ihre Farbe wechselten.
Im Augenblick glichen sie einem dicht bewölkten Horizont – sie durfte seiner Betroffenheit glauben.
„Ihr wart verletzt, Fremde. Iain hat Euch retten wollen!“ Colias ironische Stimme durchschnitt die erstarrte Atmosphäre. Beider Köpfe fuhren erschrocken zu der Medizinerin herum, die mit verschränkten Armen an einem Fenster lehnte. Sie war völlig lautlos eingetreten und hatte die beiden eine Zeitlang interessiert beobachtet.
Iain war ein wenig verlegen, sie gaben sicher ein seltsames Bild ab. Doch seine Gegnerin hatte ganz andere Sorgen.
„Ich bin verletzt?!“ Entsetzt sah sie zwischen den anderen hin und her.
Iain nickte ernst.
„Du hast dir dein rechtes Bein gebrochen. Colia hier hat es dir richten müssen.“ Damit wies er auf die Frau, die nun näher getreten war und sie ruhig betrachtete.
„Aber ich darf nicht verletzt sein! Ich habe einen Auftrag, den ich erfüllen muss – so schnell es mir möglich ist!“
„So schnell es Euch möglich ist“, unterbrach die Medizinerin sie bestimmt; den wütenden Blick, der darauf folgte, ignorierte sie. „Und das wird in den nächsten sechs Wochen nicht der Fall sein.
Bei Paxia, Ihr braucht jetzt Eure ganze Kraft für die Heilung. Ich habe Euch extra ein Mittel gegeben, das Euch noch mindestens eine Stunde hätte schlafen lassen müssen, damit der Prozess schneller eingeleitet wird und Ihr keine Schmerzen spüren braucht.“
„Keine Herrschaft über meinen Körper.“ Sie explodierte innerlich. Wie konnten diese Fremden es wagen, ihr so etwas zuzumuten? Andere Lebensweise schön und gut. Andere Denkweise, auch das war akzeptabel. Aber ihr in so einer Art und Weise nahezutreten, das kam einer Vergewaltigung gleich.
„Das ist leider eine unangenehme Nebenwirkung.“ Colia erahnte den Gedankengang des Mädchens und wollte ihr mit Offenheit den Stachel ziehen. Die beiden musterten sich schweigend. Schließlich nickte das Mädchen als Zeichen der widerwilligen Akzeptanz.
„Ich glaube, Iain, unsere Patientin braucht keine Hilfe mehr, die sie ans Bett fesselt. Auch wenn es dir unangenehm ist, du kannst dich jetzt von ihr lösen, damit sie sich vorstellen kann.“ Amüsiert sah sie dem jungen Mann zu, wie er vorsichtig zuerst seinen Unterleib vor ihr in Sicherheit brachte – sie konnte sich in etwa vorstellen, was passiert war, nachdem sie die kriegerische Art der Fremden erlebt hatte – und dann endgültig zurücktrat.
Das Mädchen setzte sich augenblicklich auf, bewegte ihre Arme prüfend, aber sie machte keine Anstalten anzugreifen. Sie kam sogar Colias indirekter Aufforderung nach.
„Ich bin Saya vom Volk der Sternwächter.“
Iain war begeistert. Eines der sagenumwobensten Wesen Paxias, und er hatte sie gefunden. Es gab nur wenige Aufzeichnungen über sie, und diese waren meist widersprüchlich und verschwommen. Ganz selten nur schien etwas von sicheren Quellen zu stammen. Gerade bei dieser Art von Sagen konnte man nur schwer Fiktion von Realität trennen. Alles, was man über sie und ihre Lebensart erfahren konnte, war so unglaublich für sie, die auf Paxia lebten, dass es nicht leichtfiel, auch nur Bruchstücke für wahr zu halten.
Und er, Iain, hatte nun die einmalige Gelegenheit, diesen Zustand zu ändern.
Wochenlang würde er mit diesem Wesen gemeinsam Zeit verbringen können, würde alles über sie erfahren, was für neue, authentische Überlieferungen notwendig war. Vielleicht vermochte er sogar, neue Freundschaften zu einem anderen Volk zu knüpfen.
Es musste möglich sein, Brücken über die unterschiedlichen Verhaltensmuster zu bauen, so dass sie sich ohne Aggressionen und Missverständnisse begegnen und unterhalten konnten.
Dieses Wesen reizte ihn wie nichts zuvor in seinem Leben und stellte gleichfalls eine Herausforderung dar, die er nicht imstande war abzulehnen. Seine Aufgabe lag vor ihm.
Colia dagegen nahm Sayas Eröffnung ruhig auf. Auch sie war recht bewandert in den Sagen Paxias, doch als nüchterne Medizinerin bevorzugte sie die Lebenden vor dem Papier. Und als solche war sie an Sayas Gesundheitszustand wesentlich interessierter als an dem Wahrheitsgehalt der toten Überlieferungen. Ihr lag eher daran, mehr über die Anatomie der Sternwächter zu erfahren, um dem Mädchen helfen zu können, statt über irgendwelche Eigenarten ihrer Herkunft zu philosophieren.
So war sie dann auch die Erste, die nickend das Wort ergriff.
„Nun dann, Kriegerin Saya, willkommen im Reich des Himmels, Eure Zufluchtsstätte für die Phase Eurer Genesung.
Gestattet mir, Euch dabei zu helfen, und verratet mir, was ich über Eure Körperfunktionalitäten wissen muss, damit ich dieser Aufgabe auch gewachsen bin.“
Saya starrte sie überrascht an – angenehm überrascht, weil die Medizinerin der korrekten Ansprache ihres Volkes mächtig war, aber auch ein wenig unangenehm berührt, weil diese dennoch einen Fehler begangen hatte. Diesen konnte sie allerdings schnell ausräumen – diesmal auf wesentlich höflichere Art.
„Ich fühle mich geehrt, dass Ihr mich als Kriegerin einstuft, Medizinerin, jedoch bin ich vom Rang einer Gelehrten und würde die korrekte Anrede bevorzugen.“
Das hatten beide nicht erwartet. Ungläubig blickten sie auf die deutlich muskulöse Gestalt Sayas.
Wenn sie schon keine Kriegerin war, wie stark mochten dann erst diese sein?
Iain spürte noch immer pochend den Beweis ihrer Kraft – er zweifelte auch keine Sekunde daran, dass sie mit seinem Dolch hätte hervorragend umgehen können, wäre es zu einem echten Kampf gekommen.
„Das kann ich mir kaum vorstellen“, meinte er dann auch mit skeptischer Miene. „Du bist doch wirklich das personifizierte Bild einer Kriegerin. Wie ist es zu dieser Entscheidung gekommen?“
„Soll das heißen, du traust mir keinen Verstand zu?“, fuhr sie ihn zornig an. Im Unterbewusstsein war ihr klar, dass er sie nicht beleidigen wollte. Andererseits hatte sie auch nicht die geringste Lust, ihm ihre Lebensgeschichte auszubreiten. Und sie wusste, Angriff war meistens die beste Verteidigung.
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