Tränen verschleierten seinen Blick, während er unermüdlich die Decke fortzuziehen versuchte.
„Marco...“, brach schließlich Tonis Stimme in Marcos Verzweiflung, begleitet von seiner Hand, die er seinem kleinen Bruder auf den rechten Unterarm legte, um ihn endlich zu stoppen.
Mit erregt auf- und absteigender Brust hielt Marco inne und sah Toni in die Augen.
„Marco, du hattest einen Unfall. Ein Auto hat dich angefahren. Dabei hast du dir... Du hast dir die Wirbelsäule gebrochen...“
Marco blieb stumm, sein Blick bloß starr auf Toni gerichtet.
„Die Ärzte sagen, dass du... Naja, dass das Rückenmark verletzt ist.“
Toni spürte plötzlich eine Trockenheit in seinem Mund, die ihm das Sprechen unmöglich machte. Er konnte es nicht. Er konnte seinem Bruder einfach nicht sagen, dass die Ärzte jegliche Hoffnung auf Genesung ausgeschlossen hatten. Er konnte ihm nicht sagen, dass er den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen würde.
Aber er musste es auch nicht, denn Marco nickte bloß. Beinahe schien es, als ginge ihn diese Information auf einmal gar nichts mehr an. Er drehte den Kopf zur Seite und starrte einfach ins Leere.
Marco fiel. Er stürzte rücklings in einen gähnenden, schwarzen Abgrund, in den Tonis Worte ihn soeben gestoßen hatten, haltlos, mit einem Schlag seines ganzen Lebens beraubt. Er war einfach entkoppelt, unfähig, seine Gedanken mit seinem Körper zu verbinden, reglos, sprachlos.
Rückenmark verletzt... Marco kannte das andere Wort dafür: Gelähmt...! Das sollte es nun sein? Das sollte er nun sein? Von einem Tag auf den anderen? Einfach so? Mal eben zum Krüppel geworden?
Übelkeit kroch ihm die Kehle hinauf und es kostete ihn Mühe, sie wieder herunter zu schlucken, weil die Zunge an seinem Gaumen festklebte.
Marco versuchte immer wieder, diese Information zu begreifen, sie mit dem Nichts unterhalb seines Bauches zu verbinden, aber er vermochte es nicht. Es war unmöglich! Nein, so einfach konnte das nicht sein! Vor wenigen Tagen war er doch noch gelaufen. Er wusste genau, wie sich das anfühlte, so einfach, so normal, so gewöhnlich. Es war schlicht weg absurd, dass er das nun nicht mehr können sollte!
Plötzlich war Marco überzeugt, ja ganz sicher, dass dieses Horrorszenario bald vorbei sein würde. Hab Geduld , sagte er sich, in ein paar Wochen wirst du hier rausgehen und es als die furchtbarste Erinnerung deines Lebens abhaken. Marco wusste, dass es so kommen würde. Anders konnte es gar nicht sein, gleich, was die Ärzte sagen würden. Ganz gleich. Sie kannten Marco nicht. Doch er, Marco, er wusste, dass er bald wieder laufen würde.
Er nahm einen tiefen Atemzug und wandte sich wieder Toni zu. Müde sah sein Bruder aus. Erschöpft. Und in seinen Augen stand Mitleid. Marco fluchte innerlich, denn das Mitleid galt unmissverständlich ihm. Mitleid... Wie er diesen Ausdruck auf einmal hasste! Er hasste ihn, weil er ihm das Gefühl gab, sein Leben sei plötzlich nichts mehr wert, das Gefühl, als sei das Urteil nun endgültig, ein Gefühl, dass ihm jede Hoffnung zu rauben drohte. Seine kleine, mühsam an sich gerissene, mit aller Kraft festgehaltene Hoffnung.
Marco wollte nicht, dass Toni ihn so ansah! Er ertrug es nicht.
„Du siehst aus, als könntest du Schlaf gebrauchen“, sagte er schließlich, bemüht, nach außen die Fassung zu wahren, und stellte erleichtert fest, dass er mit diesen Worten soeben Tonis Mitleid in Überraschung verwandelt hatte. Ein flüchtiges Lächeln glitt über Tonis Züge und er nickte.
„Warum gehst du nicht nach Hause und legst dich ins Bett?“
Toni schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Er wollte seine Hand ausstrecken, um Marco durch das Haar zu streichen, aber Marcos mahnender Blick hielt ihn zurück.
„Später“, antwortete er stattdessen.
„Nein, Toni, ich glaube, es täte dir gut, jetzt zu gehen.“
Irritiert blickte Toni auf seinen Bruder herunter, der plötzlich eine eigentümliche Entschlossenheit in seinen Zügen trug. Sollte dies etwa eine Aufforderung sein?
„Hilf mir nur noch kurz, die Decke beiseite zu nehmen, damit ich meine Beine endlich richtig sehen kann. Dann kannst du gehen.“
Konsterniert stand Toni da, während Marco sich wieder umständlich an seiner Decke zu schaffen machte. Schließlich griff er selbst danach, schlug sie zur Seite und half Marco, den Kopf anzuheben.
„Nein, ich will sitzen, Toni“, protestierte er, umklammerte Tonis Hand plötzlich ganz fest und wollte sich daran hochziehen, doch dieser hielt ihn mit sanfter Gewalt zurück.
„Die Ärzte haben gesagt, du sollst noch für zwei Wochen flach liegen bleiben, bis die Wirbelsäule belastbar ist.“
Wütend ließ Marco Tonis Hand wieder los und funkelte ihn an.
„Du machst wohl immer nur, was man dir von oben vorschreibt, oder? Es ist mir egal, was die Ärzte sagen! Ich will jetzt sitzen!“
Toni bedachte seinen Bruder mit einem unnachgiebigen Blick und schüttelte den Kopf, sodass dieser gezwungen war, sich wohl oder übel mit der Entscheidung der Ärzte abzufinden.
Grimmig betrachtete Marco somit das, was er aus seiner bescheidenen Position heraus erkennen konnte und der Anblick tat ihm weh. Leblos lagen seine Beine da, das linke von oben bis unten in einen Gips gehüllt und das rechte mit einem Schaumstoffpolster um die Ferse versehen, um Druckstellen zu verhindern, wie er noch aus der Pflege während des Zivildienstes wusste. Allerdings hatten da die alten, bettlägerigen Patienten so etwas getragen...
Marcos Magen krampfte sich zu einem kalten Stein zusammen und er wollte einfach nicht glauben, was er sah. Oder vielmehr, er wollte nicht glauben, dass das, was er sah, seine Beine waren. Seine Beine... Abermals versuchte er, sie zu bewegen, so wie er es seit jeher getan hatte, so wie er es seit jeher kannte. Aber es tat sich nichts. Sein Befehl, sein sehnlichster Wunsch verpuffte in dem Vakuum seines gelähmten Köpers. Immer wieder sandte Marco den Impuls aus und hoffte inständig, er möge nun endlich sein Ziel erreichen. Er lauschte in sich hinein, auf der Suche nach einer Antwort, und sei sie noch so leise, doch es herrschte Stille. Bloß die Verzweiflung hallte zurück und nistete sich in Marcos Herzen ein. Mühsam schluckte er gegen den Knoten an, der ihm die Kehle zuschnürte, und versuchte, seine Gefühle nicht zu beachten, ihnen irgendwie zu entkommen. Sonst, so dachte er, würden sie ihn gleich wahnsinnig machen.
„Warum ist das linke Bein geschient?“, fragte er schließlich mechanisch und hörte, wie Toni scharf den Atem einsog. Alarmiert sah er zu seinem Bruder auf.
„Es war gebrochen“, erhielt er darauf zur Antwort, konnte aber einen Ton dabei mitschwingen hören, der noch etwas anderes erzählte.
„Okay...? Und?“
Toni wurde etwas fahrig in seinen Gesten.
„Schwere Trümmerfraktur ... so nannten die Ärzte es.“
Toni verschwieg, dass er die Ärzte nur mit Mühe davon hatte abhalten können, das Bein zu amputieren. Sie hatten es damit begründet, dass Marco es ohnehin nie wieder brauchen würde und der Bruch zu kompliziert war. Die Risiken einer weiteren Operation, die unweigerlich lange gedauert hätte, wollten sie Marco nicht zumuten. Zumal ihr Erfolg auch zweifelhaft war. Aber Toni hatte darauf bestanden. Er wusste, dass Marco es ihm nie verziehen hätte, wenn er nicht darum gekämpft hätte. Und er hatte recht damit gehabt.
„Sie haben es mit Platten stabilisiert. Zwei Wochen muss der Gips bleiben, dann ist es wieder so gut wie neu.“ Toni lächelte und war erleichtert, dass seine Aussage Marco zufrieden zu stellen schien. Mit einem Nicken wandte dieser seinen Blick wieder auf sein eingegipstes Bein und blieb zuletzt an seinen Zehen hängen.
„Eigentlich müsste ich jetzt mit ihnen wackeln...“, stellte er benommen fest. Dann schwieg er, die Augen weiterhin auf seine Füße gerichtet. Toni fragte sich, ob Marco es tatsächlich gerade versuchte, aber die Zehen blieben still. Nicht einmal ein leises Zucken war zu sehen und Toni konnte sich nicht gegen das unangenehme Ziehen in seiner Magengegend wehren, das diesen Anblick begleitete.
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