Andreas Thorensen hatte mit solchen Zweifeln gerechnet, sie kam alles andere als unerwartet. Deshalb ärgerte er sich auch nicht darüber. Er hatte seine Vermutung nicht ohne Bedacht geäußert. Trotzdem bestand er nicht weiter darauf. Dabei wollte er nicht einmal ein Tor in eine andere Welt ins Gespräch bringen, aber er fragte sich, ob es physikalische Erscheinungen gab, die einen übergangslosen Ortswechsel auch auf der Erde erlaubten, ohne irgendein verkehrstechnisches Medium zu benutzen. Doch dann kamen ihm Zweifel, ob es in diesem Fall tatsächlich so sein konnte, denn hätte es auf diese Weise einen ungewollten Ortswechsel der Familie in eine andere Gegend gegeben, wäre sie bestimmt schon wieder von selbst aufgetaucht. Wahrscheinlich die beiden Kommissare auch, falls ihnen das gleiche Schicksal widerfahren war. Offensichtlich war es allen jedoch verwehrt.
Die spöttische Bemerkung Gerd Treesens brachte Thorensen ungewollt auf die Frage, ob der Kommissar der Wahrheit nicht vielleicht sogar näherkam als er selbst, auch wenn es bestimmt unbeabsichtigt geschehen war. Es wäre irre, wenn die Vermissten sich aus dem Grund nicht melden konnten, weil sie tatsächlich in eine andere Welt versetzt worden waren.
Thorensen erschauerte bei der Tragweite solcher Vorstellungen. Doch dann zwang er sich wieder zu realistischen Gedanken, denn das alles waren natürlich nur Spekulationen, ungeeignet dafür, logisch nachvollziehbaren Erklärungen für diese Fälle zu liefern. Dabei ahnte er schon, dass es wahrscheinlich keine solchen Erklärungen geben würde, und seine Vorschläge waren zu unkonventionell, um akzeptiert werden zu können. Die Möglichkeit für ein Ausbleiben einer Nachricht der beiden LKA-Kommissare hatte TenDegen ja bereits ins Spiel gebracht. Vielleicht war das Schicksal von Tolkien und Hainbusch-Vieth in Wirklichkeit ganz anders verlaufen als das der Familie Benninghaus und sie waren bei oder nach der Entführung umgekommen. Die Art ihrer Auflösung ließ jedenfalls darauf schließen.
„Was hat die Fahndung nach der Familie bisher eigentlich ergeben?“, wollte Björn Andresen wissen.
„Nichts“, musste Harm Hansen eingestehen. „Weder die Angehörigen und Freunde der Benninghaus´ können etwas zu ihrem Verbleib sagen noch haben sich irgendwelche Zeugen gemeldet.“
„Dann wissen wir also nichts“, stellte Björn Andresen fest. „Und die Aufnahme hat uns auch nicht viel weitergebracht.“
„Ich denke, wir wissen einiges. Aber das, was wir wissen, bringt uns der Aufklärung des Falles nicht näher. Es macht den Fall sogar verwirrender, finde ich“, meinte Hansen.
Gerd Treesen wollte noch etwas sagen, da unterbrach ein Klopfen an der Tür die Runde. Eine junge Polizeibeamtin steckte ihren Kopf herein und brachte die Nachricht, dass auf der Beekwarf ein paar interessante Entdeckungen gemacht worden waren, die die Anwesenheit des Untersuchungsleiters erforderlich machten.
„Also doch“, sagte Andresen zuversichtlich.
„Abwarten“, dämpfte TenDegen seine Hoffnungen. „Wir wissen nicht, was sie entdeckt haben. Vielleicht wird dadurch der Fall nur noch verwirrender.“
TenDegen und Thorensen gingen voraus zu den Autos.
„Sie war ziemlich gewagt, deine These von dem Tor“, meinte TenDegen lächelnd. „Aber vielleicht stellt sich heraus, dass du der Wahrheit nähergekommen bist, als du glaubst.“
„Ich weiß, dass sie gewagt war“, gab Thorensen zu. „Ich weiß auch, dass ich meine Vermutung vielleicht ein wenig vorschnell geäußert habe. Aber die ganzen Umstände, besonders die Art und Weise, wie die Kommissare verschwanden, schließen einen gewöhnlichen Entführungsfall aus. Allerdings lag es mir fern von einem Tor in eine andere Welt zu sprechen, sondern zwischen zwei entfernten Orten auf der Erde. Natürlich kann ich mich irren. So etwas ist mir noch nicht begegnet. Ich gebe aber zu, dass Gerds Einwand auch etwas für sich hat, obwohl er ihn nur ironisch meinte.“
TenDegen sah Thorensen aufmunternd an.
„Nochmal, warten wir es ab. Vielleicht machen wir noch ein paar erstaunliche Entdeckungen. Ich fürchte nur, wenn meine Vermutungen stimmen –.“
„Die du nicht leichtsinnig äußern wolltest“, unterbrach Thorensen ihn listig.
„Wäre ich in der Vergangenheit in dieser Hinsicht unvorsichtig gewesen, würde ich inzwischen wieder Streifendienst tun. Also, ich fürchte, wenn meine Vermutungen stimmen, dann werden wir diesen Fall nicht durch eine übliche polizeiliche Vorgehensweise aufklären können. Trotzdem, warten wir ab, was auf dem Anwesen gefunden wurde.“
„Du weißt mehr als ich.“
„Natürlich. Aber dieses Mal ist es eher eine Vorahnung.“
„Teilst du sie mir mit?“
TenDegen lachte.
„Habe noch ein wenig Geduld.“
„Hast du eine Ahnung, wie es zu diesem - äh, Zeitsprung, oder besser zu der Zeitlücke zwischen der Entführung der Benninghaus´ und der Aufnahme des Anrufbeantworters kam?“, fragte Thorensen. „Ich nehme an, dass du deine Ahnungslosigkeit nur vorgetäuscht hast. Oder liegt sie wirklich an deinem Alter?“
TenDegen lachte.
„Ich fürchte, ich habe mich gegenüber Andresen etwas unhöflich ausgedrückt. Das wollte ich nicht. Vielleicht hat er sogar Recht. Aber ich weiß, dass die Zeitabläufe zwischen dem Diesseits und dem Jenseits nicht synchron stattfinden. Es ist also ebenso gut möglich, dass sich die Zeit bei einem Übergang von hier nach dort dehnt. Genau kenne ich mich in diesen Vorgängen aber wirklich nicht aus.“
„Du denkst, sie befinden sich im Jenseits?“, fragte Thorensen erstaunt.
„Ehrlich gesagt, ja. Zumindest sind sie ihm näher als unserer Welt.“
Soviel hatte Thorensen auch schon vermutet, nachdem Treesen ihn auf diesen Gedanken gebracht hatte, deshalb lag die Möglichkeit, die Ereignisse mit einer herkömmlichen physikalischen Betrachtungsweise nicht mehr erklären zu können, wahrscheinlich gar nicht so fern. Allerdings soweit, die Familie gleich ganz ins Jenseits zu verbannen, hatte er dann doch nicht gehen wollen. Möglicherweise gab es Regionen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, aus denen sie wieder zurückkehren konnten. Aber vielleicht hatte TenDegen mit seiner Vermutung auch nicht so Unrecht.
„Ich wundere mich“, meinte TenDegen. „Hast du nicht selbst ein Tor in eine andere Welt ins Spiel gebracht.“
„Ja, aber -.“
„Na also, warum denn nicht ins Jenseits. Und hüte dich vor dem Fehler, es dir als den furchtbaren Ort vorzustellen, wie es so viele Leute tun. Es ist genauso eine Welt wie unsere und manche Orte dort würdest du von irdischen kaum unterscheiden können. Es heißt sogar, dass es im Jenseits Orte gibt, die schöner sind als manche auf der Erde.“
„Ich wäre gespannt auf eine Begegnung mit diesem Schamanen“, meinte Thorensen, den die Äußerungen des Kriminalhauptkommissars ziemlich verwirrten und ratlos machten. „Glaubst du, die wird stattfinden?“
„Unwahrscheinlich und schon gar nicht bei dem Trubel auf der Beekwarf.“
„Hältst du ihn für das Gleiche wie ich?“, bohrte Thorensen nach.
TenDegen blickte ihn an.
„Du hast mir noch nicht gesagt, wofür du ihn hältst, aber unter uns, ich vermute, dass er ein Geist ist. Und wenn er ein Geist ist, sind wir auch dem Jenseits nahe, wie ich es sagte. Ich glaube, dieser Erdtrichter hält noch ein paar Überraschungen bereit. Es spricht sehr viel dafür, dass wir es in diesem Fall tatsächlich mit echten Geistererscheinungen zu tun haben. Trotzdem bin ich mir noch nicht im Klaren, warum dieser Sturm notwendig war, um die Menschen zu entführen.“
„Vielleicht war das ja tatsächlich nur ein Nebeneffekt für irgendeinen Vorgang“, wiederholte Thorensen. „Oder das Spektakel sollte die Wirkung des Auftrittes des Schamanen nur verstärken.“
„Ja, vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber zu deiner Genugtuung, ich bin ebenfalls ziemlich sicher, dass es sich tatsächlich um ein Tor zu einer anderen Welt handelt.“
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