1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Nachdem TenDegen den Befehl zum Beginn der Spurensicherung gegeben hatte, kam Bewegung in die vier Frauen und fünf Männer und nicht zum ersten Mal fielen sie mit ihrer Ausrüstung über einen »mutmaßlichen« Tatort her. Der größte Teil der Mannschaft begab sich ins Haus, zwei von der Gruppe schickte TenDegen zu dem merkwürdigen Trichter in den Garten.
„Hat es einen besonderen Grund, warum Sie keine spezifischen Angaben gemacht haben, wonach sie im Haus suchen sollten?“, fragte Gerd Treesen den Hauptkommissar aus reiner Neugierde.
Der sah ihn rätselhaft an.
„Haben wir denn spezifische Hinweise, wie Sie es nennen?“, erwiderte der TenDegen. „Weder aufgrund unserer Besichtigung noch aufgrund einer Ihrer Erklärungen. Oder sollte ich vielleicht besser sagen, aufgrund einer ihrer preisgegebenen Hinweise.“
„Wie meinen Sie das?“
Kriminalhauptkommissar TenDegen lächelte milde ohne die Spur von Ärger zu zeigen.
„Sehen Sie, ich bin schon einige Zeit in diesem Geschäft und habe einige bescheidene Erfolge erzielt. Und irgendwann bekommt man ein Gespür dafür, ob einem eine Unwahrheit, nur ein Teil der Wahrheit oder die ganze Wahrheit erzählt wird.“ Es entstand ein ungemütliches Schweigen. Ohne lange eine entsprechende Antwort abzuwarten, setzte er lächelnd hinzu: „In diesem Fall ist es nur die halbe Wahrheit, wie ich vermute. Und wir wollen versuchen, auch die andere Hälfte der Wahrheit herauszufinden. Vielleicht ist sie in gewissen Sinne nicht leicht zu verstehen, und wenn es so ist, dann war vielleicht noch nicht der richtige Zeitpunkt, sie zu erwähnen.“
Treesen begann, TenDegen allmählich mit anderen Augen zu sehen. Der Kriminalhauptkommissar schien ein schlauer Fuchs mit bestimmt beachtlicher Menschenkenntnis zu sein. Da konnte es ihm natürlich kaum entgangen sein, dass die beiden Polizisten etwas vor ihm verheimlichen wollte. Sie erzählten ihm ja keine Lügen, aber eben nur die halbe Wahrheit, wie er richtig erkannt hatte. Aber Treesen bezweifelte, dass der Kriminalhauptkommissar auch nur ahnte, was sie ihm zunächst versuchten zu verschweigen. Es gänzlich zu tun, war ja gar nicht ihre Absicht, aber vorher mussten sie die Ermittlungen in bestimmte Bahnen lenken. Denn so viel Björn Andresen wusste, war TenDegen ein genialer, aber ebenso nüchterner Polizist und weit davon entfernt in dem Ruf zu stehen, übersinnliche Dinge überhaupt auch nur in Betracht zu ziehen.
„Übrigens, meine Herren, ich vergaß ihnen mitzuteilen, dass die Analyse des Anrufbeantworters mit einem interessanten Ergebnis abgeschlossen wurde“, eröffnete er den beiden übergangslos. „Und zufällig habe ich das Ergebnis hier. Aber ich denke, der Revierleiter Harm Hansen sollte sich das ebenfalls anhören. Und vielleicht kann es nicht schaden, wenn Polizeihauptmeister Thorensen ebenfalls mit von der Partie ist. Fahren wir also zurück nach Husum.“
TenDegen übergab die Leitung der laufenden Untersuchungen einem seiner Leute und ging dann mit Andresen und Treesen zu den Autos. Gerd Treesen wunderte sich, aus welchem Grund der Kriminalhauptkommissar die abgeschlossene Untersuchung des Anrufbeantworters nur so beiläufig erwähnt hatte und wie es schien, erst auf dem Anwesen. Eigentlich hätte er, da es sich um einen ganz offiziellen Auftrag gehandelt hatte, auch ganz offiziell auf dem Revier darüber sprechen müssen. Und noch mehr wunderte er sich, warum TenDegen Wert darauf legte, dass ausgerechnet Thorensen und nur er von den bisher mit dem Fall betrauten Polizisten an der Besprechung teilnehmen sollte. Allmählich begann ihm auch der Kriminalhauptkommissar einige Rätsel aufzugeben.
Bevor sie die Beekwarf verließen, meinte TenDegen verschmitzt: „Auch ich habe Ihnen nur eine halbe Antwort gegeben. Hätte ich vorhin auf bestimmte Dinge hingewiesen, hätten meine Leute unbewusst anderen vielleicht weniger Beachtung geschenkt. Es hatte also keinen tieferen Sinn als den, die Gründlichkeit der Untersuchungen zu optimieren.“
„Das verstehe ich“, erwiderte Treesen.
Das tat er nicht ganz, denn er argwöhnte nicht, dass TenDegen ganz »bestimmte« bestimmte Dinge gemeint hatte. Außerdem hätte dieser Einwand einen gewissen Zweifel an der Professionalität der Spurensucher aufkommen lassen. Und das hätte sich Treesen auch nicht vorstellen können.
Die Beekwarf lag einige hundert Meter von der Deichstraße entfernt. Dieser Umstand, und der, dass die Gegend nur sehr dünn besiedelt war, führte dazu, dass die in der letzten Zeit häufigen Besuche der Polizei auf dem Anwesen, die an diesem Tag in dem Auftauchen einer ganze Armada von weißen Fahrzeugen mit weißverhüllten Gestalten und dazu noch ein paar mehr Polizeifahrzeugen als zuvor mündeten, nur wenigen aufgefallen waren. Einer davon war ein Bauer auf seinem Schlepper, der seine Geschwindigkeit auffallend verringerte, als er an dem Anwesen vorbeifuhr. Zu den Gebäuden hinauf kam er aber nicht.
Trotz einiger Meldungen in Presse, Rundfunk und Fernsehen über der vermisste Familie hielt sich das Interesse an der Beekwarf in Grenzen.
Und entgangen war es auch einem anderen Beobachter nicht, der sich nicht allzu weit entfernt von der Beekwarf auf einer anderen Warf aufhielt, auf der sich verdeckt hinter einer hohen, dichten Hecke und von der Beekwarf unsichtbar die Ruine eines ehemaligen Wohnhauses befand. Natürlich war sie den Husumer Beamten bekannt. Da sie aber unbewohnt war, hatten sie keine Notwendigkeit gesehen, sie in ihre Ermittlungen mit einzubeziehen. Tatsächlich hätten sie dort auch nichts entdecken können, was ihnen geholfen hätte, die Vorgänge auf der Beekwarf zu erklären.
Dieser Beobachter, ein wahrer Hüne mit langem Haar, stand gerade in diesem Augenblick dort zwischen zwei Büschen und beobachtete der Ereignisse auf der Beekwarf mit starren und erschreckend geweiteten Augen. Sein Interesse an den dortigen Vorgängen war mehr als reine Neugierde.
Zunächst hörten sie ein Geräusch wie das Brausen eines starken Windes in den Wipfeln von Bäumen, wie ein Sturzregen auf einem Dach oder wie das Rauschen eines fernen Wasserfalles, das wie durch eine wechselhafte Brise anschwoll und wieder davongetragen wurde. Dann waren die ersten, undeutlichen Worte zu vernehmen, deren Verursacher sich den Zuhörern näherten.
... „Der Sturm ist vorbei“, stellte ein Mann fest. Seine Stimme zitterte leicht und ihr war der Schrecken deutlich anzuhören. „Woher kam dieser verdammte Sturm?“ „Wir hätten auf sie hören sollen“, sagte eine Frau verzweifelt. „Wir hätten die Beekwarf verlassen sollen.“ Ihre Stimme war erfüllt von Verzweiflung und Furcht. Ein Kind weinte im Hintergrund. „Dafür ist es jetzt zu spät“, erwiderte der Mann niedergeschlagen. „Oh! Johannes, was sind das für Mönche?“, fragte die Frau. Es entstand ein schwaches Störgeräusch. „Herrgott, lauf nicht weg“, sagte sie ungehalten. „Bleib in unserer Nähe, Karsten.“ Anscheinend gehorchte das Kind nicht, denn plötzlich fing es an zu jammern, dass es der Mönch loslassen soll. „Ich wollte doch nur -“, erwiderte das Kind, wurde aber von dem Mann unterbrochen. „Es sind Wächter, glaube ich. Sie sollen uns bewachen “, war anscheinend die Antwort auf die Frage der Frau. Für eine kurze Zeit herrschte Ruhe, überlagert von einem leisen Zischen und Fiepen, wie bei einem gestörten Radioempfang. „Wo sind wir hier?“, fragte ein Kind. „Das ist nicht mehr die Beekwarf.“ Dieses Mal war es ein Mädchen. Es schien älter als der Junge zu sein und seine Stimme hörte sich erstaunlich gefasst an. „Und - wie kommen wir hierher?“ „Ich weiß es doch nicht, Mirja“, erwiderte Johannes angespannt. „Der Sturm und der Schamane ...“ Wieder entstand eine Lücke mit einer atmosphärischen Störung. „... der Schamane überhaupt?“, fragte die Frau. „Es sind nur noch diese Mönche da.“ „Ich höre etwas. Seid jetzt einmal ruhig“, forderte der Mann die anderen auf. „Ich höre nichts“, meinte Mirja nach einer kurzen Pause. „Vielleicht habe ich mich auch geirrt.“ Es folgte ein erneutes Rauschen. „Dort!“, sagte das Mädchen mit erschrockener Stimme. „Da kommt jemand.“ „Es ist wieder der Schamane“, entfuhr es der Frau. „Er hat ein Schwert in der Hand.“ Die nun folgenden ängstlichen Bemerkungen der Kinder ließen darauf schließen, dass der Schamane auf die vier zukam. Schließlich erklang eine tiefe, unüberhörbar drohende Stimme mit einem unbestimmbaren Dialekt. Es war eine Stimme, die einem Schauer über den Rücken jagen konnte: „Ich bin nicht zurückgekommen, um euch zu begrüßen und auch nicht, um euch willkommen zu heißen. Ihr hättet besser auf uns gehört. Ihr habt Warnungen erhalten, Rangdredd zu verlassen. Es gehört uns und wir werden es uns zurückholen.“ „Das Grundstück gehört uns. Wir haben es gekauft“, widersprach der Mann, den die Frau Johannes genannt hatte. Der Schamane schien nicht beeindruckt zu sein. Er reagierte weder mit Hohn noch mit Zorn. Mit ruhiger Stimme entgegnete er: „Nichts habt ihr begriffen, wie mir scheint. Man kann nicht besitzen, was einem nicht gehört. Aber darüber entscheiden wir an einem anderen Ort. Und über einige mehr. Rangdredd ist für euch Geschichte. Folgt mir.“ „Ihr wollt uns umbringen! Ihr wollt uns umbringen!“, klagte die schwächer werdende Stimme von Johannes. Es folgte ein kurzes Rauschen, dann ein Knacken.
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