An dieser Stelle war das Band des Anrufbeantworters zu Ende, als wäre es abgeschnitten worden, damit keine weiteren Aufzeichnungen mehr darauf Platz hatten. Alle anderen Anrufe hatten vor dieser rätselhaften Aufnahme stattgefunden und waren aufgrund ihrer Bedeutungslosigkeit für den Kriminalfall im Labor entfernt worden. TenDegen schaltete das Wiedergabegerät ab.
Für einen kurzen Augenblick herrschte ein nachdenkliches Schweigen in dem kleinen Raum. Kriminalhauptkommissar TenDegen, der Revierleiter Harm Hansen, Polizeioberkommissar Gerd Treesen, der Kriminalkommissar Björn Andresen und der Polizeihauptmeister Andreas Thorensen dachten jeder für sich über das Gehörte nach.
„Nun, was halten Sie davon?“, fragte Kriminalhauptkommissar TenDegen und blickte von einem zum anderen.
Björn Andresen räusperte sich. Einerseits wollte er sich äußern, andererseits fiel ihm nichts recht Gescheites ein. Nicht nur ihm ging es so. Abgesehen von Michael TenDegen konnte eigentlich keiner etwas mit dem Gehörten anfangen. Keiner von ihnen glaubte wirklich daran, dass diese Fragmente eines Gespräches tatsächlich ein Anruf waren, auf dessen anderem Ende sich eine Gruppe von Leuten einen Spaß daraus machte, einem Zuhörer mit ihren Wortwechseln zu verwirren und mit dem Rauschen, Pfeifen und den Verzerrungen der Stimmen einen Schauer über den Rücken zu jagen. Aber worum es sich in Wirklichkeit handelte, blieb ihnen verborgen. Es hätte ihre Vorstellungskraft überfordert. Daher verlief das Gespräch der Polizisten zunächst auch ziemlich zusammenhangslos und verriet eine verständliche Ratlosigkeit.
„Die Stimmen haben dünn und etwas hohl geklungen“, fand Andresen, „als wären sie in einem größeren Raum mit einem Echo gesprochen worden. Auf jeden Fall hören sie sich weit entfernt an, fast als kamen sie aus einer anderen –.“
„Soweit wollen wir noch nicht denken“, unterbrach ihn TenDegen und nur Thorensen ahnte, warum. „Befassen wir uns zunächst nur mit den Fakten.“
Was Andresen auf der Zunge lag, hätte manch einen nicht nur erstaunt, sondern ihm auch ein gehöriges Maß an Phantasie abverlangt. Deshalb war TenDegens Eingreifen zu diesem Zeitpunkt wohl bedacht. Und doch war er überrascht. Gerade von diesem Kommissar hatte er eine solche Deutung der Aufnahme nicht erwartet.
Der Kriminalhauptkommissar fuhr fort:
„Und einer dieser Fakten ist die Gewissheit, dass es sich tatsächlich nicht um einen Anruf handelt, sondern um den Mitschnitt eines Gespräches. Wir haben alle anderen Anrufe zeitlich und den Teilnehmern zuordnen können, aber als diese Aufzeichnung gemacht wurde, hat kein Anruf stattgefunden.“
„Es wäre auch ein sonderbarer Anruf gewesen“, fand Gerd Treesen.
„Sicher. Und deshalb kann man die Existenz dieser Aufzeichnung durchaus als eine Besonderheit betrachten. Ungeachtet der Umstände in diesem Fall sind Anrufbeantworter für derartige Aufgaben nicht geeignet, soweit ich weiß.“
„Ich muss Ihren Leuten meine Hochachtung aussprechen“, sagte Hansen anerkennend. „Die KTU hat offensichtlich eine gute Arbeit bei der Restaurierung der Aufnahme geleistet.“
„Das will ich meinen“, sagte TenDegen zufrieden. Schon oft hatte er mit der kriminaltechnischen Untersuchungsabteilung zusammengearbeitet und es hatte sich immer wieder bewiesen, wie wertvoll ihre Ergebnisse für die Aufklärung seiner Fälle und die der anderen Ermittler waren. „Aber wie ich sagte, dieses Gespräch passt nicht in dieses Gerät und bei aller Raffinesse des Labors ist es ihm nicht gelungen festzustellen, wie das Gespräch aufgezeichnet worden sein könnte.“
„Aber ich glaube, es gibt keinen Zweifel daran, um wen es sich dabei handelt“, meinte Gerd Treesen. „Es kann nur die Familie Benninghaus gewesen sein. Soweit wir wissen, heißt der Mann Johannes und der Sohn Karsten. Mutter und Tochter heißen Kathrin und Mirja. Konnte der Zeitpunkt der Aufnahme herausgefunden werden.“
„Sogar sehr genau. Es war letzten Mittwoch um 14:45 Uhr.“
Jetzt begann das Grübeln. Thorensen erinnerte sich als erster.
„Das war acht Tage, nachdem Karola Herbst und Bernd Niewald sich dort umsahen. Nach den Angaben des Postboten hatte er schon in der Woche vorher niemanden mehr aus der Familie angetroffen. Wenn die Angabe stimmt –„
„Sie stimmt“, unterbrach ihn TenDegen.
„Dann war die Familie seit wenigstens zwei Wochen vor dieser Aufzeichnung verschollen. Wären dieses die einzigen Fakten, dann könnten wir vielleicht sogar ein Verwirrspiel der Familie in Betracht ziehen, die sich ein Spaß daraus machen würde, einige Spekulationen über ihren Verbleib auszulösen. Aber nachher ist ja noch einiges mehr passiert und sogar der Schamane ist ziemlich eindrucksvoll aufgetaucht. Trotzdem halte ich es für möglich, dass die Familie noch lebt.“
„ Das ist jetzt reine Spekulation“, meinte Hansen. „Auch wenn wir keine Hinweise auf eine Gewalttat an der Familie haben, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie wirklich noch lebt.“
„Richtig, aber warum gleich mit dem Schlimmsten rechnen?“, erwiderte Björn Andresen. „Wir können, glaube ich, durchaus davon ausgehen, dass die Familie noch lebte, als die Aufnahme entstand.“
Unter gewöhnlichen Umständen wäre diese Schlussfolgerung schlüssig gewesen, aber TenDegen hatte Gründe anzunehmen, warum es in diesem Fall nicht so sein musste. Doch die konnte er in diesem Kreis unmöglich vorbringen.
„Ich meine, es gibt einen ziemlich sichtbaren Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Familie und dem der beiden Kommissare“, sagte Andreas Thorensen. „Der Nebel.“
„Nur weil in beiden Fällen Nebel aufgezogen war?“, zweifelte Andresen.
„Wenn die Wetterlage bei dem zweiten Ereignis anders gewesen wäre, den Nebel angekündigt hätte, dann hätten Sie Recht. Aber es war keine Nebelwetterlage.“
„Sie meinen, der Nebel wurde künstlich hervorgerufen? Das ist doch lächerlich. Da würde ich eher eine Gemeinsamkeit in dem Auftauchen des Schamanen sehen.“
Der Polizeihauptmeister lächelte und entgegnete: „Was diese Erscheinung betrifft, gebe ich Ihnen recht, aber der Nebel, der aufzog, als die beiden LKA-Beamten verschwanden, hätte nach allem, was ich über das Wetter in unserer Gegend weiß, und ich bin hier aufgewachsen, nicht da sein dürfen. Außerdem war er lokal ungewöhnlich eng begrenzt und trotz des, wenn auch schwachen Windes, erstaunlich standortfest.“
„Und wie verhält es sich mit dem Nebel, der herrschte, als die Familie verschwand?“, fragte Andresen. „Und das über mehrere Tage.“
„Tja, in dem Fall muss ich zugeben, dass er genauso gut meteorologisch erklärbar wäre“, gestand Thorensen ein.
Nach einer erneuten Pause meldete sich Harm Hansen wieder zu Wort.
„Das Brausen am Anfang der Aufnahme deutet auf den innerhäuslichen Sturm hin. Und als die Aufzeichnung stattfand, also eine Woche später, stellte Johannes Benninghaus fest, dass er vorüber war. Hm, müssen wir das so verstehen, dass da eine Lücke von einer Woche klafft und dieser Zeitraum der Familie nicht bewusst geworden ist? Das wäre physikalisch unmöglich, meine ich.“
„Genauso unmöglich wie der Sturm, oder?“, meinte Thorensen und deutete damit an, dass sie es hier mit mehr als einer physikalischen Besonderheit zu tun hatten.
„Das ist eine wichtige Beobachtung“, stellte TenDegen fest. „Über diesen Punkt habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Ich bin aber noch zu keiner Erklärung gelangt. Doch genauso scheint es gewesen zu sein. Bemerkenswert, nicht wahr?“
„Dafür gibt es vielleicht eine ganz einfache Erklärung“, meinte Björn Andresen. „Wenn diese Aufnahme am Ende des Sturmes entstanden ist und erst eine Woche später auf dem Aufnahmegerät gespeichert wurde, wäre die Frage nach der Lücke beantwortet. Oder gibt es einen zwingenden Grund dafür, dass beides gleichzeitig passiert sein muss?“
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