„Dann gibst du meinen Husumer Kollegen recht, die Geistererscheinungen auf der Beekwarf für möglich halten?“, vergewisserte sich Thorensen. „Schließlich haben sie einige gespenstische Augenblicke dort erlebt.“
„Ich zweifle daran, dass sie auch nur ahnten, was ihnen dort begegnete. Aber ich habe ihre Aussagen mit Interesse zur Kenntnis genommen. Übrigens verwechsle Geister nicht mit Gespenstern. Geister sind vollständige Wesenheiten, während Gespenster nur die Auswirkungen von Energien und Kräften diesseitiger und jenseitiger Wesen sein können. Ah, da kommen unsere Kollegen.“
Dass Michael TenDegen die Leitung der Ermittlungen in diesem Fall übernommen hatte, war kein Zufall, denn Thorensen hatte ihm kurz vor dem Hilfeersuchen Harm Hansens schon einige Hinweise zu dieser Angelegenheit mitgeteilt und auf die baldige Meldung an das LKA hingewiesen. So hatte TenDegen rechtzeitig die Gelegenheit, einen gewissen Einfluss darauf zu nehmen, wer den Fall übertragen bekam.
Die beiden kannten sich privat und teilten einige ungewöhnliche Interessen, was von den anderen Beamten keiner wusste. Und die Umstände dieses Falles waren für TenDegen von besonderem Interesse.
Als sie das Anwesen erreichten, befanden sich alle Untersuchungsbeamten im Garten und umringten den mysteriösen Erdtrichter. Der hatte sich in der Zwischenzeit ziemlich verändert.
„Das müssen Sie sich ansehen, Herr Hauptkommissar“, empfing ihn eine junge Beamtin.
Die anderen ließen TenDegen und seine Begleiter bis zum Rand des Trichters durch. Am Fuß war ein Mann in einem nicht mehr ganz so weißen Schutzanzug damit beschäftigt, menschliche Knochen freizulegen und vom Rand her machte ein anderer Fotos mit einer Kamera.
„Wie seid ihr darauf gestoßen, Bärbel?“, fragte der Kriminalhauptkommissar.
„Unter anderem haben wir die Umgebung hier auf Ihr anraten mit dem Magnetresonanzdetektor abgesucht und sind auf diese menschlichen Überreste gestoßen.“
„Kann man schon sagen, wie alt sie sind?“, fragte Gerd Treesen ein wenig voreilig. Bei dem Anblick der Knochen hielt er es dann aber selbst für unwahrscheinlich, es mit den Überresten der Familie zu tun zu haben.
Der Gerichtsmediziner, Dr. Schreiner, der kurz vor TenDegen auf der Beekwarf angekommen war, schüttelte mit dem Kopf. Er hatte die Knochen einer ersten Prüfung unterzogen.
„Nein, aber sie müssen bereits ziemlich alt sein“, war er sicher.
„Sie liegen in über zwei Metern Tiefe und waren bedeckt von einer siebzig bis achtzig Zentimeter dicken Kleischicht“, erklärte Bärbel Wolters, die in der Untersuchungsmannschaft für chemische Analysen zuständig und eigentlich mehr im Labor als an Tatorten beschäftigt war. „Darüber befand sich noch einmal einiges an Hausabfällen. Vermutlich handelt es sich um eine alte Abfallgrube. Die Tonscherben und die Asche dort auf dem Haufen gehören dazu. Wir stießen nur wenige Zentimeter unterhalb der Trichtersohle darauf. Die Kleischicht ist übrigens eine natürliche Bodenablagerung. Sie verstehen schon, Schlicksedimentationen durch Überflutungen.“
„Dann müssen die Knochen allerdings tatsächlich ein hohes Alter besitzen und vor der Besiedlung dieser Warf dort verscharrt worden sein“, meinte Björn Andresen. „Wie eine Begräbnisstätte sieht mir das Ganze aber nicht aus. Vielleicht waren es Opfer eines Verbrechens oder eines Kampfes.“
„Opfer“, sagte TenDegen.
„Bitte?“
„Es waren wirkliche Opfer. Es sind die menschlichen Überreste einer Opferstätte. Allerdings existierte sie lange bevor dieser Hügel besiedelt wurde, was die Tonablagerungen beweisen. Mein Rat an Sie, Bärbel, war nicht das Ergebnis einer Eingebung, sondern ganz schnöder Geschichtsforschung. In einer ziemlich alten Chronik fand ich einen Hinweis darauf, dass es in dieser Gegend zwei Opferstätten des frühen Volksstammes der damals noch heidnischen Friesen gab. Ich habe nur nicht herausfinden können, wo genau. Anscheinend ist dieses hier einer der Orte.“
„Stand Ihre Nachforschung im Zusammenhang mit diesem Fall?“, fragte Harm Hansen. „So lange wissen Sie doch noch gar nichts davon.“
„Auf jeden Fall nicht lange genug, um so kurzfristig literarisch etwas herauszufinden. Aber Sie sehen, ein wenig Heimatkunde fördert manchmal auch ganz praktische Erkenntnisse.“
„Was soll mit den Knochen geschehen?“, fragte ein anderer Beamter.
TenDegen überlegte. In jedem anderen Fall wäre die Entscheidung einfacher gewesen, doch hier konnte eine falsche geradezu schauerliche Folgen haben, vielleicht schauerlicher als die bisherigen Vorfälle. Der Kriminalhauptkommissar traf bewusst die falsche Entscheidung. Das hatte jedoch nicht unmittelbar mit der Aufklärung dieses Falles zu tun. Ihn interessierte viel mehr, was sie über Menschenopfer der damaligen Zeit lernen konnten. Aber er hoffte inständig, keine ruhenden Mächte auf den Plan zu rufen.
„Wir graben sie aus und nehmen sie mit ins Labor“, sagte er. „Aber lasst sie alle beieinander.“ Das wäre sowieso der Fall gewesen, deshalb wunderten sich einige über diese Anordnung. „Und dann füllt den Trichter sauber wieder auf.“ Diese zweite Anordnung wunderte einige noch mehr, aber sie führten sie ohne Einwände aus.
„Wir müssten die Knochen hier eigentlich liegen lassen“, sagte TenDegen flüsternd zu Thorensen, als sie sich ein Stück von den anderen entfernt hatte. „Es geschieht vielleicht irgendetwas, was mit ihrer Entfernung zu tun hat. Aber andererseits kann ich vor diesen Leuten so nicht argumentieren. Ich hoffe, die Sache geht gut, wenn wir sie später vernünftig auf einem Friedhof beisetzen. Und ich hoffe auch, dass wir die Geister besänftigt haben, indem wir den Erdtrichter wieder auffüllten.“
„Du ahnst, was kommt?“
„Nicht einmal das. Aber wir müssen unter Umständen damit rechnen, dass wir – ach was. Lassen wir das. Es war nur so ein Einfall.“
„Du meinst, es könnte auch beim LKA spuken?“
„Na ja, so wie dieser Fall begonnen hat, können wir es nicht ausschließen.“
„Dann gehst du ein gewisses Risiko ein, oder?“
„Du sagst es.“
„Hatte deine Vorahnung, von der du mir vorhin nichts sagen wolltest, etwas mit diesem Fund zu tun?“, fragte Thorensen.
„Allerdings. Ich war mir nur nicht sicher, ob es sich bei der Beekwarf tatsächlich um eine ehemalige germanische Opferstätte handelt. Jetzt weiß ich es. Und solche Orte sind geradezu prädestiniert für Spukerscheinungen.“
„Dann weißt du auch sicher ihren ursprünglichen heidnischen Namen, nehme ich an?“
„Rangdredd“, erwiderte TenDegen kurz.
„Ich habe es mir fast gedacht.“
Die Entdeckung der menschlichen Überreste war aber noch nicht alles, was die Beamten des LKA ans Tageslicht befördert hatten. Nachdem sie die Spuren des scheinbaren innerhäuslichen Sturmes untersucht hatten, stellten sie fest, dass er sich fächerförmig aus der Richtung eben dieses Erdtrichters ausgebreitet hatte. Dass es sich dabei tatsächlich um einen Sturm gehandelt hatte, erfuhren sie aber erst jetzt. Da es dafür mehrere Zeugen gab und die Zustände im Haus keinen anderen Schluss zuließen, mussten sie daran glauben, obwohl es den meisten mehr als schwer fiel. Es war ja auch kein normaler Sturm, aber dass währenddessen auch noch die Erscheinung eines Phantoms stattgefunden hatte, behielten die wenigen, die davon wussten, für sich. Dafür gab es keine Beweise außer den Aussagen von drei Zeugen und es waren Zweifel angebracht, ob die ausreichten, die Skepsis der LKA-Beamten zu beseitigen.
„Ich bin froh, dass dieser angebliche Ausbruch aus dem Trichter nicht auch noch die Knochen dieser Toten in der Gegend verstreut hat“, meinte ein Untersuchungsbeamter, der für seine gelegentlichen makabren Bemerkungen berüchtigt war. TenDegen wollte schon etwas erwidern, schwieg dann aber doch.
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