»Wäre das so gewesen, dann wäre anstelle Jesu ja Petrus ans Kreuz genagelt worden.«
»Mit dem genagelt ist das auch so eine Sache. So wie es dargestellt wird, mit Nägeln durch Hände und Füße getrieben, geht das gar nicht. Der Körper kann so nicht halten.«
»Ja, Petrus wäre dann für Jesus gestorben. Und Jesus wäre es gewesen, der der Jerusalemer Urgemeinde vorstand und später nach Rom ging, um dort der erste Papst der Christenheit zu werden.«
»Aber die alten Überlieferungen der Bibel erzählen doch, dass Petrus nach der Kreuzigung Jesu noch lange in Jerusalem lebte und dort missionierte. Später begleitete ihn eine Frau, auf der Flucht vor Herodes. Sie ging mit ihm auch nach Rom. Wenn es nicht Petrus war, sondern Jesus, dann war die Frau Maria Magdalena. Unglaublich!«
»Für diejenigen, die nur das Wort der Kirche glauben und nur die Zeilen in der Bibel lesen, ist das wirklich unglaublich. Aber für diejenigen, die zwischen den Zeilen lesen, ist es zumindest vorstellbar.«
»Es wäre aber doch schon längst etwas darüber bekannt geworden. In Rom sitzen doch lauter studierte Theologen. Die sind doch nicht alle dumm oder alle blind!«
»Wer sagt uns, dass die nicht Bescheid wissen? Es sollen im Vatikan Schriftrollen unter Verschluss liegen, die Experten auf ihre Echtheit untersucht haben und keinerlei Zweifel daran hatten, dass sie echt sind. Eine Altersbestimmung muss eine genaue Zuordnung zur Zeit kurz nach der Auferstehung ergeben haben. Darin sollen diese Thesen erklärt sein.«
»Und im Vatikan weiß man davon?«
»Im Vatikan weiß man viel mehr. Der Vatikan ist im Besitz von Informationen, die man sich hier nicht vorstellen kann. Und von dort aus wird gesteuert.«
»Und der Papst. Weiß der das auch alles?«
»Der Papst ist nicht dumm. Er weiß viel. Er will wahrscheinlich jedoch nicht alles wissen, was der Vatikan verbirgt. Sonst müsste er handeln. Und das wäre nicht immer richtig. Also stellt er sich unwissend.«
Das mussten alle erst einmal verdauen und so kam eine kleine Pause gerade recht. Ein Partyservice lieferte ein Essen an. Es wurde trotzdem aufgeregt durcheinander gesprochen. Nach einer halben Stunde rief der Hausherr die Versammelten wieder zur weiteren Aussprache zusammen.
Propst Kerner brauchte etwas frische Luft und unternahm einen kleinen Spaziergang. Seine Gedanken kreisten um die Rede des engagierten jungen Mannes. Kerner musste sich eingestehen, dass auch er sich von der Theorie nicht gänzlich lossagen konnte. Als er zurückkam, war die Diskussion wieder in vollem Gange.
»Und was machen wir aus unserem heutigen, modern denkenden Wissen der Vergangenheit? Nichts. Wir leben weiter so wie eh und je. Wir wollen gar nicht an das Un-endliche denken.«
»Was meinst du genau?«
»Na. Was war denn die bedeutendste Erfindung aller Zeiten?«
»Das Rad vielleicht?«
»Genau. Man glaubt heute, nach Datierung von Funden, dass das Rad im 4. Jahrhundert vor Christus entstand. Und was war die nächste bedeutende Erfindung?« Das Schweigen im Raum zeigte Kerner, dass sich nun alle Anwesenden auf den jungen Redner konzentrierten.
»Also, etwas mehr an Geschichtskenntnissen hätte ich euch schon zugetraut. Es war die
Erfindung des Schwarzpulvers. Wozu diente es?«
»Als Schießpulver?«
»Genau. Schwarzpulver ist eine Mischung aus Kaliumnitrat, was unter dem Namen Salpeter geläufiger ist, Holzkohle und Schwefel. Früher nahm man an, es käme ursprünglich aus China. Heute sind sich die Gelehrten einig, dass sich die Rezeptur sehr wahrscheinlich über Jahre hinweg durch Experimente herausgebildet hat. Der Beginn soll schon im 7. Jahrhundert gewesen sein und sich über die Jahre bis ins 13. Jahrhundert entwickelt haben.«
»Was willst du uns damit sagen?«
»Wartet, noch ein Beispiel und ihr werdet verstehen. Was waren die nächsten bedeutenden Erfi ndungen?«
Alle Anwesenden waren in den Bann des Redners gezogen.
»Das Auto?«
»Genau. Das Auto. Fernsehen. Telefon. Computer. Alles in sehr kurzer Zeit. Vom Rad zum Computer in nicht mal 8000 Jahren. Wie lange gibt es die Erde? Wie lange gibt es das Weltall? Das kann keiner sagen. Die Schätzungen gehen in Milliarden oder Billiarden von Jahren. Und was war vorher?«
»Über die Entstehung der Erde gibt es schon gewisse Theorien.«
»Ja, sicher. Nur genau wissen kann das keiner. Über das Entstehen des Universums an sich gibt es auch heute keine belegbaren Erkenntnisse. Lediglich Vermutungen einiger Professoren, die Überlegungen anstellen, dass irgendein Urknall eine Gammastrahlenexplosion in einer Galaxie weit, weit entfernt ausgelöst haben könnte. Also alles nur Gerede. Der Beweis fehlt. Der kann auch nicht geliefert werden.«
»Nun sag schon, was es mit den Erfindungen auf sich hat.«
»Ok. Also. Wir sind uns einig, dass kein Mensch die unendliche Weite des Alls begreifen kann. Auf der Erde gibt es schlaue Leute, die große Erfindungen gemacht haben. Was aber ist, wenn es in der unendlichen Weite des Alls eine weitere Erde, oder vielleicht viele weitere Erden mit sowas wie Menschen bewohnt, gibt? Und was ist, wenn diese Menschen oder was sie auch immer sein könnten, auf einem viel höheren Erfinderstandard sind als wir?«
»Spielst du jetzt Raumschiff Enterprise ?«
»Nein, ich meine es ernst. Nur Idioten und Ignoranten können glauben, dass wir in der unendlichen Weite des Alls alleine sind. Und wenn es zutrifft, dass wir nicht alleine sind, haben die anderen auch einen Gott? Haben die vielleicht unseren Gott? Kann sich ein Gott allein um alle kümmern? Ist es nicht eher so, dass dieser Gott vielleicht nicht alles, was im All geschieht, mitbekommt?«
Es traute sich keiner, das Wort zu ergreifen.
Nach ewigen Sekunden sprach ein älterer Mann: »Wenn wir unseren Glauben verlieren, lohnt es sich nicht zu leben.«
»Glauben mag vielen Menschen Halt geben. An eine Macht zu glauben, die über den Menschen steht, ist ja auch nicht falsch. Vielleicht sogar notwendig und richtig. Aber der Glaube, den die Kirche wider besseres Wissen verbreitet, ist nicht richtig. Nikolaus Kopernikus hat erst 1509 die These aufgestellt, dass sich die Erde um die eigene Achse und wie die anderen Planeten alle auch, um die Sonne dreht. Er hat aber 30 Jahre gewartet, um sie zu veröffentlichen. Erst kurz vor seinem Tod hatte er den Mut, das zu tun. Heute sind wir es, die warten. Warten mit der Verbreitung neuer Ideen.«
»Wenn du Ideen verbreiten willst, die zum Inhalt haben, Gott als nicht existent darzustellen, solltest du dir im Klaren sein, dass du sehr vielen Menschen den Halt, den sie im Glauben fi nden, nimmst. Und was willst du ihnen als Ersatz anbieten? Schwarze Messen? Den Glauben an nichts? Oder an den Teufel vielleicht?«
»Wer an den Teufel glaubt, glaubt auch an Gott, so steht es in der Bibel, denn dort wird der Teufel nicht geleugnet.«
»Aber an was kann man dann glauben?«
»Ich weiß es auch nicht. Ich weiß nur, dass ich das unsinnige Gerede von der Kanzel nicht ertrage.«
Propst Kerner dachte auf dem Rückweg zum Hotel über die Situation nach. Sollte keiner sagen, dass junge Men-schen sich keine Gedanken über Gott machten. Ihm fiel ein Artikel ein, der kürzlich in der Welt abgedruckt war:
Beeindruckend sei die Bereitschaft junger Frauen und Männer aus Serbien und dem Kosovo, die Verletzungen der Vergangenheit zu überwinden und gemeinsam einen Weg für eine friedliche europäische Zukunft zu finden. So fasste die Leiterin der Europaabteilung der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) ihre Erfahrung im Anschluss an die siebte Serbientagung zusammen. Einen gemeinsamen Weg zu finden, war richtig. In welche Richtung er gehen sollte, war noch nicht absehbar. Kerner gefiel die Richtung, in die das Gedankengut der Leute bei diesem Meeting ging, nicht.
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