»Schauen Sie sich Belgrad an. Spannen Sie mal richtig aus. Sie sehen mitgenommen aus. Ist Ihnen der Flug nicht bekommen?«
Herzberger antwortete nicht darauf. So viel Ironie musste er erst mal verdauen.
Im Pionirskipark schaute er sich vormittags die Statuen an, aß eine Kleinigkeit in einem schmucken Restaurant in der Nähe der Stadthalle und nahm an einer Stadtrundfahrt teil. Am späten Nachmittag ging er ins Hotel und rief abermals zu Hause an. Seine Frau ging jedoch nicht ans Telefon. Er legte sich aufs Bett und schlief nach einiger Zeit ein.
Propst Kerner fuhr zu einer Adresse, die ihm von dem protestantischen Pfarrer Josip Mihailovic mitgeteilt wurde. Sein Ziel war eine alte Villa in der Nähe der beiden Stadien. Am Partizan Stadion nahm er eine falsche Abfahrt und musste zurückfahren, an einem Waldgebiet vorbei, bis er die Villa vor sich hatte.
Mihailovic empfing ihn schon vor dem Haus. Als das Taxi wegfuhr, sagte er zu Kerner: »Mein lieber Freund, wir müssen vorsichtig sein. Das Treffen hier darf auf gar keinen Fall öffentlich werden.«
»Nun, ich dachte, mittlerweile wäre Belgrad eine moderne europäische Metropole, großzügig Andersdenkenden gegenüber.«
»Ja, das mag wohl in politischer Hinsicht so sein. Wir aber dürfen kein anderes Denken als das christliche auch nur ansatzweise öffentlich diskutieren, geschweige denn verbreiten.«
»Das wollen wir in Deutschland auch nicht.«
»Ja, aber ihr könnt euch in euren Universitäten, auf Kirchentagen und anderen Foren ohne Angst vor Repressalien austauschen.«
»Und das geht in Serbien nicht?«
»Nein, hier dominiert der christliche, katholische Glauben, etwa wie bei euch in Bayern, nur dass es nicht erwünscht ist, Glaubensfragen zu stellen.«
Sie betraten die Villa. Es war angenehm kühl durch die Klimaanlage. Zehn Personen, ausschließlich Männer, saßen am großen Tisch im Salon und redeten wild durcheinander.
»Meine Herren, ich bitte Sie. So geht das nicht. Wir sollten ein konstruktives Gespräch führen. Ich darf Ihnen unseren Gast aus Deutschland, Propst Kerner vorstellen. Er steht seit geraumer Zeit mit uns in Verbindung und nimmt als stiller Zuhörer heute teil.«
Zu Kerner gewandt sagte er: »Ich werde Ihnen die einzelnen Herren im Laufe des Tages vorstellen.«
Die zehn Teilnehmer der Runde nickten Kerner zu und waren sofort wieder ins Gespräch vertieft.
»Wir können ja nicht einmal die irrsinnige These von Adam und Eva infrage stellen, ohne dass wir gesteinigt werden.«
»Die wird von den meisten Menschen auf der ganzen Welt nicht infrage gestellt.«
»Ja, das liegt allerdings daran, dass sich die einen keine Gedanken darüber machen und die anderen, vorwiegend ältere Leute, es schon immer so gehört haben und nicht hinterfragen.«
»Ach, und was motiviert dann eine Million größtenteils junge Menschen, dem Papst zu huldigen, der doch gegen Abtreibung und Verhütung gleichermaßen ist?«
»Genau, die sitzen alle in der Kirche, hören die Predigt und tragen so dazu bei, der Kirche weiterhin die Macht zu geben, Märchen zu verbreiten, die einzig und alleine den Zweck haben, die Schäfchen bei der Stange zu halten.«
»Klar, das bringt doch die Kirchensteuer ein.«
»Warum traut sich keiner, öffentlich zu sagen, dass das komplette Alte Testament erlogen ist? Und das Neue noch dazu.«
»Na, so hart würde ich es nicht sagen. Immerhin sind einige Sachen erwiesen.«
»Ach ja, was denn? Dass Eva aus einer Rippe von Adam entstand? Mann, heute lernen die Kids doch schon im Sexualkundeunterricht, dass Inzucht in dritter und vierter Generation zu solchen Schäden führt, dass ein Überleben nicht möglich ist.«
»Außerdem hat die Wissenschaft die Entstehung des Menschen nachgewiesen.«
»Und trotzdem wird die Evolutionstheorie, die ja an allen Schulen und Universitäten gelehrt wird, von vielen Menschen infrage gestellt. Charles Darwin, einer der Begründer des Glaubens, dass sich das Leben vom Einzeller bis zum Säugetier entwickelt hat, hat selbst Zweifel daran.«
»Ach, das sind doch nur die Zeugen Jehovas, die Angst davor haben, sie könnten vom Affen abstammen.«
»Das ist aber auch Glaubenssache.«
»Nein, das ist Fakt. Glaube ist, dass Jesus Wasser in Wein verwandelt hat.«
»Kann ich auch. Es gibt Brausetabletten, die sich in nur zehn Sekunden auflösen. Merkt keiner. Hätte früher auch keiner bemerkt.«
»Bleib mal sachlich.«
»Was aus der Entstehungsgeschichte als Tatsache zu entnehmen ist, wird wohl nie geklärt werden können. Es ist keiner da, den man fragen kann.«
»Ja, aber nehmen wir einmal die Kreuzigung Jesu. Da stimmt ja fast gar nichts. Überliefert ist, dass Jesus ans Kreuz genagelt wurde. Vom römischen Konsul Publius Cornelius Tacitus wurde im Jahre 111 berichtet, dass ein Christus von dem Präfekten Pontius Pilatus hingerichtet wurde. Kein Wort von gekreuzigt. Und weiter … War er da 36 oder 39 Jahre alt? Das wurde nicht genau überliefert. Ist aber für die spätere Zeitrechnung wichtig.«
»Solche Beispiele gibt es viele.«
»Für manche Geschichtchen im Alten und Neuen Testament gibt es auch logische Erklärungen.«
»Wasser in Wein zu verwandeln, leuchtet mir anhand von Farbpulver einer Frucht schon ein, aber welche Erklärung gibt es dafür, dass man vor zweitausend Jahren solche Angst vor einem einzigen Menschen hatte? Man hätte ihn doch auf offener Straße umbringen können. Das Volk konnte gegen die Schwerter der Römer nichts machen.«
»Und warum hat man sich auf Jesus alleine konzentriert? Ging keine Gefahr von seinen Jüngern aus?«
»Die sind jedenfalls nicht gekreuzigt worden.«
»War es überhaupt Jesus, der da am Kreuze hing?«
»Was ist das für eine Frage? Zweifelst du daran?«
»Sagen wir einmal so. Es gibt da eine Theorie, mit der sich in letzter Zeit immer mehr Menschen anfreunden können. Nicht bewiesen, aber falls sie stimmen würde, könnte es das ganze Weltbild über Jesus und den Glauben um ihn erschüttern.«
»Und welche Theorie ist das?«
»Nehmen wir einmal an, dass Jesus gar nicht gekreuzigt wurde. Dass er gar nicht getötet wurde …«
Großes Stimmenwirrwarr war die Reaktion der Zweifler. Dann setzte sich einer stimmlich durch.
»Es gibt logischerweise keinen Zeitzeugen der damaligen Geschehnisse, also müssen wir die Überlieferungen so nehmen, wie sie sind. Wir können an vielen Geschehnissen zweifeln. Aber an der Existenz Jesu und an dem, was damals an Ostern geschah, darf es keine Zweifel geben.«
»Und wenn doch? Ich meine nicht die Existenz Jesu. Aber seinen Tod und die Auferstehung.«
»Dann sag uns mal deine Theorie.«
»Nehmen wir einmal an, Judas Ischariot wäre gar nicht der Verräter gewesen, für den ihn alle halten. Nehmen wir weiter an, es hätte eine Absprache bei den Jüngern gegeben. Es könnte möglich gewesen sein, dass sie damals weit Schlimmeres befürchteten, wenn sie die Situation mit den Römern nicht entschärfen konnten. Nehmen wir weiter an, dass die Jünger übereinkamen, Jesus nur zum Schein auszuliefern. Nur, dass dieser Jesus nicht Jesus sein sollte, sondern dass sich Petrus bereit erklärte, für seinen Herrn zu sterben. Dann bekam also den so berühmten Kuss des Judas nicht Jesus, sondern Petrus.«
Es wurde so still im Raum, dass man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Der Verbreiter dieser Theorie schaute in die Runde. Er sah nicht nur Zweifel in den Gesichtern, er sah auch Verständnis. Oder zumindest fragende Gesichter.
Dann sagte er weiter: »Stefan Fandrey hat dies in seinem Buch Hexengericht niedergeschrieben. Sicher ein Roman, aber eindeutig wiederlegen kann das niemand. Er schreibt weiter, dass Judas dann ja wohl nicht der Verräter Jesu gewesen sei, sondern dessen Retter.«
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