Eines Tages kam die Oberin von Bethanien nach Weißstein und berichtete, es sei angeordnet worden, die Krüppel zu verlegen, nach der Räumung sollte das Heim dann als Lazarett benutzt werden. Die Mallwitzens hatten Gerüchte über die Euthanasie gehört und versprachen, ihr Möglichstes zu tun. Wilhelm sprach bei verschiedenen Ämtern vor, berief sich auf die Stiftung seines Vorfahren, wurde weiterverwiesen, bis ihm deutlich gesagt wurde, dass im Krieg die Wiederherstellung der Fronttauglichkeit von Verwundeten den absoluten Vorrang habe, dass mit den Krüppeln gemäß den Grundsätzen der völkischen Gesundheitspolitik verfahren würde und dass er besser keine wehrkraftzersetzende Unruhe verbreiten solle.
Das war deutlich genug, und es gab einen weiteren Grund, peinlich zu vermeiden, die Aufmerksamkeit der Nazis auf sich zu lenken. Der Sohn Goldbergs, Halbjude und politisch eher links stehend, fühlte sich in Berlin beobachtet und nicht mehr sicher. Er musste sich zumindest unauffällig machen und wandte sich an die Töchter des Freundes seines Vaters. Burgdorff verschaffte ihm die Stelle eines Buchhalters in seinem kriegswichtigen Betrieb, wohnen konnte er mit seiner Frau auf Weißstein.
In Bethanien war man natürlich fromm gewesen, also sangen die Krüppel noch einen Choral, bevor sie den Autobus bestiegen, der sie fort bringen sollte. Die Mallwitzens, die Oberin und viele andere ahnten, was ihnen bevor stand, aber wie sollte man das ändern?
Zu diesen niederschmetternden Erlebnissen kam die Furcht vor dem Krieg. Die Erinnerung an die Demütigungen nach dem ersten Weltkrieg war zwar noch zu frisch, als dass man den Polen ihre schnelle Niederlage nicht gegönnt hätte. Aber man war sich auch der Brutalität bewusst, die mit den hochtrabenden Plänen zur Eroberung von Lebensraum und dessen Säuberung durch Aussiedlung aller rassisch nicht erwünschten Bevölkerungen einher ging. Nach Stalingrad schließlich war klar, dass der Krieg verloren und die Ostfront nicht zu halten war. Goebbels‘ Reden zeigten, dass die Nazis durch Niederlagen nur noch weiter radikalisiert wurden und in die von den Alliierten geforderte Kapitulation nie einwilligen würden, lieber führten sie Krieg gegen das eigene Volk. Staat und Gesellschaft würden untergehen, wer überleben wollte, musste umsichtig sein und viel Glück haben. Und die Familien mussten zusammenhalten und Freunde einander helfen.
Friedrich Burgdorff war es gelungen, ein Gelände im Hamburger Hafen zu pachten, um dort ein Zweigwerk für Aufträge der Marine zu errichten. Das wurde allerdings bald durch Bomben zerstört, also mussten Personal, Maschinen und andere Ausrüstung aus Waldberg dahin verlagert werden, um den für den Endsieg unverzichtbaren Betrieb wieder aufzunehmen zu können. Es gelang den Burgdorffs, die Mallwitzens davon zu überzeugen, dass traditionelle Wertvorstellungen wie „Ein Adliger weicht nicht von seiner Scholle“ keine Bedeutung mehr hätten. Aber dass Agnes nach langen Ehejahren endlich schwanger geworden war, gab den letzten Ausschlag dafür, dass sich die Mallwitzens anschlossen. Wilhelm allerdings eher, um Agnes und sein Kind zu schützen, er zauderte, vielleicht konnte er sie nur bei seinem Vetter in Westfalen abliefern und zurückkehren, sofern es die Kriegslage nur erlaubte. So machte man sich im Februar 1945 mit zwei Holzgas-Lastzügen und einem Lanz-Bulldog auf den Weg nach Westen. Abweichend von der Fahrerlaubnis nahm man weniger Ausrüstung, dafür aber alle jene Arbeiter mit, die nicht mehr an den Endsieg glaubten und sich und ihre Familien in den vergleichsweise sicheren Westen bringen wollten. Zunächst übernachtete man auf den Besitzungen von Verwandten und Bekannten, später, im Westen, konnte man sich wegen der Tiefflieger nur nachts bewegen, und selbst das war nicht ungefährlich, denn es gab auch Angriffe unter Scheinwerferlicht. Hinter Magdeburg trennte man sich, die Burgdorffs fuhren nach Hamburg, die Mallwitzens zu ihren Verwandten nach Westfalen.
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