1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Mara öffnete langsam die Augen und über ihr breitete sich ein in Holz geritztes Kästchenmuster aus, das mit allerlei Buchstaben gefüllt war. Sie richtete sich auf und merkte, dass sie in eine bunte Flickendecke gehüllt war und auf einem großen Himmelbett lag. Um sie herum waren dutzende von Duftkerzen aufgestellt worden, deren unterschiedlichen Farben klar machten, woher die seltsame Duftmischung kam. Mara schlug die Bettdecke beiseite und stellte fest, dass sie immer noch ihren Pullover und die Jeans trug.
Wäre sie jetzt in ihrem eigenem Bett aufgewacht, hätte sie es für einen bösen Alptraum gehalten, doch die Grasflecken und dieses seltsam eingerichtete Zimmer sagten ihr eindeutig, dass entweder der Traum noch nicht vorbei war oder es sich um keinen Traum handelte. Unsicher stand sie auf und erforschte das kleine Zimmer. An das aus geschnitztem Holz gefertigte Bett schloss sich ein metallener Kleiderschrank an, wie sie ihn aus amerikanischen Sportfilmen kannte. Daneben fand sich ein mit winkenden Kätzchen bestellter Glastisch. Um den Tisch standen mehreren Kisten und Truhen, die scheinbar als Sitzfläche dienten.
»Wo bin ich hier?«, flüsterte Mara.
Dann entdeckte sie die Tür rechts von ihr, die ungefähr doppelt so groß war wie sonst und knapp ein Drittel der Wand einnahm. Sie streckte ihre Hand nach der Klinke aus, doch da öffnete sie sich schon und der Mann mit Zylinder trat ein. Mara schrie ihn erschrocken an. Nicht nur, weil plötzlich der unheimliche Kerl mit geflicktem Zylinder, Schal und Regenmantel vor ihr stand, sondern, weil er nur noch Zylinder und Schal trug. Vor ihr stand eine zwei Meter große, mit grünbraunem Fell besetzte Kreatur, deren viel zu breite Schultern aus Holz zu bestehen schienen. An den langen Armen wuchsen rindige Klauen. Das Gesicht wurde ebenfalls nicht mehr von dem Schal verdeckt und offenbarte eine nasenlose Fläche mit zwei kleinen Schlitzen und riesigen schwarzen Kristallen, die die Augen zu sein schienen.
»Verzeiht. Ich wusste nicht, dass ihr bereits erwacht seid«, drang aus der lippenlosen Öffnung, hinter der sich eine Art Schlangenzunge zu verstecken schien. Mara starrte ohne zu antworten die Kreatur an und wich zurück, wobei sie auf das Bett plumpste.
»Habt ihr Euch von eurem Schrecken erholt? Ich habe Euch Essen bereitet. Ihr solltet Euch stärken, bevor der Rat Euch zu sehen wünscht.«
Das Mädchen hörte überhaupt nicht, was die Kreatur zu ihr sagte und sprang auf. Blitzschnell wand sie sich durch die Beine und rannte hinaus. Sie stürmte durch etwas, das wie eine Küche aussah und riss das auf, was sie für die Eingangstür hielt. Doch bevor sie einen Schritt nach draußen machen konnte wurde sie an ihrem Pullover gepackt und wieder hereingezogen.
Das war auch besser so, denn vor ihr breitete sich kein Feld aus, keine Hügel, kein Dorf, keine Stadt. Vor ihr breitete sich nichts weiter aus als gähnende Leere. Mara schrie in Panik und hörte nicht auf zu schreien, als die Kreatur sie an den Tisch gesetzt hatte. Dann ging das Schreien in Tränen über und sie vergrub ihr Gesicht in ihren Armen. Eine ganze Weile saß sie so an dem übergroßen Tisch und weinte auf das feine Holz und ihren schmutzigen Pullover. Was ist hier los, verdammt? Ist das ein Traum? Es muss einfach einer sein. Es muss. Ich will aufwachen. Los, Mädchen. Wach auf!
Es dauerte, bis ihr langsam der Geruch von frisch gebackenem Brot, Marmelade, Honig und Kaffee in die Nase stieg.
»Ihr seid eine recht schreckhafte Person, kleine Lady«, sagte die Gestalt mit ihrem eigenartigen, metallischen Klang. Das Wesen hatte sich inzwischen ihr gegenüber gesetzt und begonnen Kaffee in übergroße Becher einzuschenken. Davon standen insgesamt fünf an der Zahl auf dem Tisch. Bei näherer Betrachtung erkannte Mara, dass alles für fünf Personen gedeckt war, obwohl sie scheinbar allein mit diesem Wesen war.
»Erwartest du noch Gäste?«, fragte sie, um sich von ihrer Situation abzulenken. Sie mochte nicht darüber nachdenken, wie sie hierhergekommen war, noch wo sie war oder was dieses Wesen mit ihr vorhatte. Den Anblick der endlosen Schlucht vor der Tür wollte sie am liebsten ganz und gar verdrängen. Vielleicht träumte sie ja doch nur und es war ein besonders realistischer Traum mit etwas vielen Fantasy-Elementen.
»Wovon sprecht ihr? Es sind doch bereits alle versammelt. Heinrich, Gregor und Frederique heißen Euch herzlichst Willkommen in unserem bescheidenem Heim.«
Bei jedem der Namen wies das haarige Etwas mit seinen knorrigen, baumrindenartigen Krallen auf einen der freien Plätze, als ob dort jemand säße und sie begrüßen würde. Mara folgte aus Reflex seiner Hand, konnte aber nichts erkennen. Das Wissen, dass ihr gruseliger Gastgeber sich drei Personen einbildete, die mit ihnen zusammen speisen sollten machte die ganze Situation noch etwas skurriler und unangenehmer.
Um sich abzulenken nahm sie einen Schluck Kaffee und musste zugeben, dass sie noch nie so einen schrecklich schmeckenden Kaffee getrunken hatte. Dann nahm sie etwas von dem Brot, welches viel zu hart war und versuchte es mit etwas Honig herunterzubekommen. Ein Unterfangen, das sich als recht schwierig gestaltete. In der ganzen Zeit aß das Wesen keinen Bissen, sondern beobachtete sie nur. Dabei schien es zu lächeln. Zumindest hoffte sie, dass die leicht nach oben gezogenen Winkel des lippenlosen Mundes ein Lächeln sein sollten.
»Was bist du?«, traute sie sich nach einer ganzen Weile zu fragen.
Das Wesen räusperte sich und stand auf. Dann machte es eine Verbeugung, wobei seine Klauen den Boden berührten und unangenehm daran schabten.
»Mit Verlaub. Mein Name lautet Osol Arabiel Grinndel Sonnensang, Jüngster im Hause Sonnensang, Bruder von Gabriel, Janol, Nomol und Vabiel, Diener des Rates und des Gleichgewichts und angehender Leiter der Seelen.«
Mara blickte ihn oder es an und wusste nicht, was sie machen sollte. Das Wesen namens Osol hatte seine Worte mit solch einer Inbrunst gesprochen, dass sie regelrecht erschüttert war. Andererseits klangen die ganzen Namen derart albern, dass sie dieses Klauen bewehrte Ding nicht ernst nehmen konnte. Also nickte sie nur, als wüsste sie genau, wovon Osol da sprach.
»Und was bist du?«, wiederholte sie nach ein paar Sekunden erwartungsvoller Stille.
Das Wesen räusperte sich erneut und setzte sich wieder, »Hier nennt man uns die Joten, doch ich glaube in eurer Welt, der Welt der Sterblichen, da gab man uns einen weniger glorreichen Namen. Man nennt uns Trolle. Ein wirklich herabwürdigender Ausdruck.«
»Trolle?«
Mara musste unwillkürlich kichern bei dem Gedanken an die dicken, haarigen Figuren mit den riesigen Nasen, welche sie auf der Fähre und in einigen Souvenirshops gesehen hatte und welche auf dem Kamin im Wohnzimmer stand. Dieser Troll vor ihr hatte mit diesen Figuren bis auf die Behaarung so ziemlich nichts gemein. Außerdem schien es, er, Osol ein wenig beleidigt von ihrem Gekicher. Also fragte sie schnell weiter.
»Was ist das hier für ein Ort?«
»Dies ist mein Zuhause.«
»Und dort draußen?«, sie wies zur Tür und ihr Körper schüttelte sich bei dem Gedanken.
»Dies ist Jotunheim. Grenze der Welten. Reich der Vertriebenen und meine Heimat.«
Sie nickte, obwohl ihr das Ganze genauso viel sagte, als hätte er den Ort vor der Tür Glübbelblü genannt. Einen Moment überlegte sie, ob sie einen weiteren Schluck Kaffee riskieren sollte, dann schob sie den viel zu großen Becher lieber beiseite.
»Und warum bin ich hier und nicht zu Hause?«
Osol seufzte, als hätte er gehofft diesen Moment noch etwas hinausschieben zu können.
»Ihr seid angeklagt der Ermordung Vabiel Dementol Sonnensangs, dem ältesten und edelsten aus seinem Hause und Wächter von Orust. Aus diesem Grunde erwartet Euch der hohe Rat an diesem Morgen um eure Verteidigung anzuhören und sein Urteil zu sprechen.«
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