Ich hielt das Schreiben bereits für die Immatrikulation. Und aus einer kurz greifenden Sicht bis zum elterlichen Gartenzaun heraus kalkulierte ich, damit eventuell um die Wehrpflichtzeit herum zu kommen, weil ich nach dem Studium vielleicht als zu alt gelten und aus der Rekrutierungsstatistik fallen würde.
Die Wendung: ich schrieb mich (...) ein, ist eine von mir gewollte Anhebung eines nüchternen Registrierungsvorganges. Der Schönheit und Einmaligkeit des bürokratischen Aktes wegen, seiner Hochstimmung erzeugenden Wirkung wegen und der immer wieder in älteren Büchern gelesenen anhebenden Textpassagen, diese oder jene Person hätte sich in eine Fakultät eingeschrieben, habe ich den Euphemismus mit Schmunzeln aufgenommen, ohne Scham mit einer stillen immer noch anhaltenden Freude. Freude empfand ich bereits während des besagten Eignungsgespräches im für mich unerwartet imposanten Schumann-Bau der Universität (in meiner Heimatstadt gab es zu der Zeit keine dominierenden Gebäude mit mehr als drei Etagen). Ich wurde in einen freundlich wirkenden, sehr hellhörigen Raum mit gerahmten gläsernen dünnen Türen und ständig eindringenden Geräuschen aus der Flurebene der fünften Etage beordert. Die mir gewaltig vorkommenden dicken Wände, die meiner Erinnerung nach an den Türleibungen abgerundet waren oder immer noch sind, denn das Gebäude existiert mit steinerner Würde weiterhin, passten nicht zu den schmalen Türchen. Aber der Gesamteindruck des Baues und seines mir noch nie vor Augen gewesenen Innenlebens, wie Rotunde, breite nicht knarrende Treppenaufgänge, die hie und da auf den weiten Etagenfluren protzenden eckigen plüschbespannten Sessel (ich wollte den Bauhausstil an ihnen erkennen), hielten mich im Bann und versagten mir den lockeren Blick auf anderes. Erst später erfuhr ich, in einem ehemaligen und umgerüsteten Gefängnis zum Gespräch gewesen zu sein.
Zwei promovierte Herren im Anzug und gelassen in ihrer Haltung baten mich ins Zimmer mit Fenstern, die einen satten Blick auf voll belaubte Bäume erlaubten. Sie redeten mehr als ich. Ihre Fragen und meine Antworten weiß ich nicht mehr. Ich habe aber den Eindruck behalten, die Herren fühlten sich in ihrer Rolle wohl und gaben mir in dem Maße ihrer zunehmenden Sprechmenge das Gefühl, aus dem Raum kommst du als Student in spe heraus. Die beiden honorierten zu meiner Überraschung mit wohlwollenden Worten eine kleine Broschüre in meinen unruhigen Händen über die Fünfte Baukonferenz der DDR (die Idee, die Broschüre vorzuzeigen, kam von dem in der direkten Nachbarschaft lebenden, wortkargen aber freundlichen Lehrmeister Otto Erl aus dem vaterstädtischen Bauunternehmen, der mich während meiner Lehrzeit von Ferne beobachtete und wusste, dass ich das Aufnahmegespräch in Dresden vorbereitete. Er reichte mir die Broschüre am Vorabend meiner Hinreise durchs Küchenfenster, lachte dabei und wünschte mir Erfolg. Seine Zähne waren schadhaft. Das sah ich dabei das erste Mal.)
Ich wunderte mich im Stillen. Was sollte an der roten Broschüre von Bedeutung und förderlich sein? Ich hatte gesellschaftliche Ereignisse wie Industriezweig-Konferenzen, Plenen des ZK der SED oder gar ihre Parteitage nie ernst genommen geschweige denn, deren Verkündigungen mit Verstand gelesen. Zu Inhalt und Ziel der Baukonferenz wäre mir kein Wort gelungen, vielleicht ein paar peinliche politische Phrasen wie in der EOS-Zeit im Deutschaufsatz. Aber wäre mein Phrasendreschen peinlich gewesen, wenn die Phrasen in die richtige Richtung geklungen hätten? Was hatte mich eigentlich gelenkt, die Broschüre während des Gesprächs in die Hand zu nehmen? Vielleicht war es der weise Rat von Otto Erl gewesen. Ich habe es vergessen.
Den Herren muss es imponiert haben, dass ich Grünschnabel mit einer aktuellen politischen Broschüre angerückt kam und die dauernd in meinen Händen zu einer Röhre drehte, wie eine Drohung, sogleich spontan und eilfertig über die Konferenz zu posaunen, worauf die beiden keinerlei Lust gehabt haben dürften, weil auch sie vielleicht nicht über allgemeine Bemerkungen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und intensiveren Auslastung der Produktionsmittel hinweg gekommen wären. Doch halte ein, sagt mein Gedächtnis, einer von den beiden, derjenige, der mir vom Habitus auch wie ein wirklicher Wissenschaftler und Hochschullehrer vorkam, wusste zu sagen, um welche Prozentzahl die Auslastung der produktiven Baumaschinen im Planungszeitraum erhöht werden sollte. Ich glaube aber, dass den beiden, vielleicht meine kräftigen und zupackend wirkenden Hände für den zukünftigen Planungszeitraum entscheidender als die Broschüre erschienen, um die nächste Erhöhung der Planziele zu erreichen. Zu meinem akzeptabel gelungenen Berufszeugnis nebst gutem Abitur sagten sie nichts Wesentliches. Sie überzeugte wohl mein gesamtes Auftreten - ein durchaus zutreffendes Wort für den Ablauf des Gesprächsereignisses von Begrüßung bis Verabschiedung, aber nicht dafür, dass ich die ganze Zeit nervös auf dem flachen Stuhl saß – und vermittelte genug Sicherheit, den Besetzungsplan des Studienganges mit einem wahrscheinlich erfolgreichen Studenten personell aufzufüllen. Schwärmend und voller Einbildung muss ich noch hinzudichten, dass auch der hoffnungsfrohe Blick meiner Augen ihnen gesagt haben könnte, den Jungen dürfen wir nicht enttäuschen und auf keinen Fall zurück in die Provinz schicken...“ Hier ist das Ende des langen Zitats erreicht. Hab’s einfach abgeschrieben.
Schweißflecke habe ich, schon seit der Bahnfahrt. Ich rieche den klebrigen Schweiß. Fahnen hängen aus der Fassade des Wohnheims. Die DDR–Fahne sehe ich und eine rote. Fahnen sind immer im Wind, sie brauchen den Wind um zu blühen...
Doch, die Szene hier erkenne ich wieder.
Die kenne ich von ... ja, von dem Bewerbungsgespräch.
Bin also hier schon mal vorbei, aber die klaren Bilder gibt es nicht. Habe nur nach oben geschaut, mich gefühlt wie ein Vogel. Ein Nestflüchter, zu früh, unbeholfen und hungrig. Und ein Großmaul im Stillen.
Halt die Klappe!
Konntest keinen besseren Zug ausgesucht haben, du Dussel.
Fährst die Nacht hindurch, Station für Station über die Prärie, durch die Käffer und noch Umsteigen in Leipzig, anstatt in Halle den Schnellzug zu nehmen und durchzufahren...
Schnellzug hat es für mich noch nie gegeben, immer Bummelzug, den ganzen Tag Bummelzug. Die ganze Fahrt Bummelzug. Reise im Bummelzug. Bummelzug ist bezahlbar.
Ich belüge mich selber. Ich hatte die Studentenermäßigung für den Fahrschein vergessen, das war der einfache Grund.
Kinderzimmerknabe, zerwühltes Bett.
Das Fenster zu Hause blieb offen stehen - Mutter, machst du es zu, wenn ich weg bin? Mutter, Mama, hörst du mich?
Wie sich das einbrennt und zurückholt.
Am Siebzehnten gibt es Geld bei Mutter im Büro. Ich weiß noch immer nicht, wie viele Mark Gehalt sie im Monat nach Hause bringt. Geheimnisse gibt es!
Vater trägt ein, zwei Hunderter im Portemonnaie. Wo hat er die Scheine nur her? Vater, du hättest die Scheine auch selber gemacht, wenn du gekonnt hättest. Wie er lacht, wenn ihn, es, niemand sieht.
Niemand erkennt ihn.
Du hättest gedruckt, im Keller, sage ich, und du hättest gefeixt. Und dir beim ersten Ausgeben doch in die Hosen geschissen. Vater.
Hättest.
Ich hätte besser trampen sollen die lange Strecke. Trotz der schweren Tasche. Rußschwarze Hände habe ich heute. Niemanden anfassen damit.
...Hunderter Scheine in Vaters Portemonnaie stimmt nicht, Zehnerscheine stimmt. Hunderter Scheine haben wir nicht zu Hause.
Ich habe nachgeschaut, jeden Monat. Das Geld liegt im Büfett in der Haushaltskasse. Der Schlüssel steckt schräg. Die Bibel liegt über der Kasse und kippt auf dem angenieteten Griff mal nach rechts mal nach links. Ich habe nie das Geld angefasst. Nie welches gebraucht. Immer nur gezählt, wenn ich allein sein konnte und den Schwund geschätzt und das Haushaltbuch gelesen. Im Sommer mehr Ausgaben, als im Winter. Kohlen und viele verschwitzte Wäsche, Wasser zum Gießen, Most aus der Kelterei und Fahrkarten für den Zug. Im Winter mehr Geld für Fleischer und elektrisches Licht.
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