Ein Anti-Heimat-Roman
Bildungseisen durch
ein unbekanntes Land
1943 – 2012
Von Willi Bredemeier
Für G.
1. Kapitel 1626 - 1943 Erinnerungen eines Mammakindes
2. Kapitel 1943 - 2013 1000 tote Geschichten von der Liebe zum Land
3. Kapitel 1945 - 1950 Ein paralleles Universum aus Worten, Bildern und Geschichten
4. Kapitel 1957 und vorher Nazis und Juden (1)
5. Kapitel 1953 - 1955 Das proletarische Ruhrgebiet vor dem Untergang
6. Kapitel 1954 - 1958 Der Untergang des proletarischen Ruhrgebiets
7. Kapitel 1955 - 1958 Die Versicherungswirtschaft im Ruhrgebiet: Die umfassende Unterforderung
8. Kapitel 1955 - 1958 Die Versicherungswirtschaft im Dreifrontenkrieg gegen Innendienst, Außendienst und Versicherungsnehmern
9. Kapitel 1958 Am Abgrund
10. Kapitel 1958 - 1965 Die letzte Zuflucht
11. Kapitel 1965 - 1966 Schere im Kopf, Langeweile im Nacken
12. Kapitel 1968 - 1982 Die Verdreifachung des Lebens: Revolution, Planstelle, Wissenschaftskonsumption
13 .. Kapitel 1971 - 1980 Politikberichterstattung und Ruhrgebietsentwicklung
14 . Kapitel 1998 und früher Nazis und Juden (2)
15. Kapitel 2010 - 2012 Alle diese Geschichten
1. Kapitel
1626 - 1943
Erinnerungen eines Mammakindes
Als Kind habe ich meine Mamma gesucht und nicht wieder gefunden. Als Erwachsener suchte ich weiter, obgleich ich wusste, ich würde erfolglos sein. Das ist in zwei Sätzen meine Geschichte.
Drumherum lassen sich Fragen stellen: Warum sehe ich die Dinge in meinem Umfeld anders als die anderen Leute? Bin ich wie verrückt traumatisiert? Oder bin ich als einziger in der Lage zu erkennen, wie die Verhältnisse sind? Offenbarte ich mich, wie ich mich gelegentlich überschätze, schriebe man mir eine besonders schwerwiegende Variante des Wahnsinns zu.
Ich kann meine Geschichte auch in mehr Sätzen erzählen. Dann begänne ich damit, dass ich ein doppeltes Mammakind bin. Einfache Mammakinder sind Kinder, die sich an die perfekte Symbiose mit ihrer Mutter im Mutterleib erinnern. Wir nennen diese Symbiose das Urparadies . Unsere Vorstellungen von der umfassenden harmonischen Gemeinschaft und vom Sozialismus, der mit eherner Notwendigkeit kommen wird, stammen aus dieser Zeit. Während der Studentenrevolte debattierten wir in verräucherten Nächten, wie die perfekte Gesellschaft mit uns zu konstruieren sei. Tatsächlich meinten wir immer nur die umfassende Einheit mit unseren Müttern.
Als wir uns im Mutterleib befanden, waren wir glücklich. Wir gaben das empfangene Glück an unsere Mütter zurück. Wir kommunizierten höchst differenziert auf vegetativer Ebene. Das fürchterlichste aller Erlebnisse ist die Geburt. Die Trennung von der Mutter zerreißt allen Mitgliedern der menschlichen Spezies das Herz. Wie können wir glücklich sein, da wir solches erlebt haben?
Ein doppeltes Mammakind ist ein Kind, das seine Mamma zweimal verliert. Wie das geschehen ist, daran erinnert es sich allenfalls in Fragmenten. Oder es bildet sie sich ein, weil es sich ohne Erinnerungen mit möglichst plastischen Bildern schwer aushalten lässt.
Ein doppeltes Mammakind ist nicht damit einverstanden, dass es seine Mamma verloren hat. Das ist allerdings so, als ob man ununterbrochen protestierte, dass man irgendwann stirbt. Da es seine Mutter nicht wiederhaben kann, verbringt es sein Leben damit, die Bruchstücke seiner womöglich nur eingebildeten Erinnerungen an die Mamma zusammenzukitten. Sollte dazu ein vollständiges Bild entstehen, möchte es einen Altar errichten und das Bild darauf stellen. Aber dazu wird es nicht kommen.
*
Ein Mammakind darf nicht mit einem Muttersöhnchen verwechselt werden. Muttersöhnchen sind auch traumatisiert, und zwar so, dass sie sich nicht an das Urparadies mit ihrer Mutter erinnern. Sie sind unfähig, die Liebe, die sie durch ihre Mutter erfahren, an sie oder irgendeinen anderen Menschen zurückzugeben. Vielmehr nutzen sie erst die Mutter und danach ihre ganze Welt aus.
Mutersöhnchen werden für ihr späteres Leben nicht durch das Urparadies , sondern durch die Ursituation am Wickeltisch determiniert. Kaum ist das künftige Muttersöhnchen auf die Welt gekommen, liegt es auf den Tisch und schreit sich die Seele aus dem Leib. Rund um den Wickeltisch findet eine Gesellschaft zusammen, um das Baby zu versorgen. Keiner will wissen, in was für ein Monster das Baby sich später verwandeln mag.
Sobald sich die Gesellschaft am Wickeltisch kümmert, liefert das Baby eine Gegenleistung ab, indem es die Gesellschaft erfreut. Diese Gegenleistung wird mit den Jahren auf Null reduziert. Wer könnte einen Zwei-Zentner-Moloch süß finden? Das Baby lernt vor allem zwei Dinge: Es kann selbst nichts Konkretes bewirken. Es ist ein Leichtes, die Umwelt zu bewegen, etwas für das Baby zu tun. Es muss nur ein Geschrei machen. Sobald sich die Gesellschaft rund um den Wickeltisch (oder später den Chefsessel) auf vorauseilenden Gehorsam eingestellt hat, reicht ein Gequengel.
Innerhalb der Gesellschaft zur Versorgung des Wickelkindes steht an vorderster Front herrschend, koordinierend und aus vollem Herzen liebend die Mutter. Wenn ein „Du, du“ nicht reicht, nimmt sie das Baby auf den Arm und gibt es womöglich an andere Arme weiter. Es ist ein Privileg und ein Glück, das Baby halten zu dürfen. Wenn alles nicht hilft, legt die Mutter das Baby an die Brust. Oder sie gibt ihm das Fläschchen. Gierig nuckelt und schaufelt das Baby Welt in sich hinein. Anders als im Mutterleib geht es nicht um die Entwicklung und Entfaltung von Potenzialen, vielmehr um die Lösung eines Mengenproblems, also das Gewinnen von Pfunden.
Die gleichförmig wiederkehrenden Situationen am Wickeltisch prägen sich dem künftigen Muttersöhnchen ein. Es denkt sein Leben lang, es gäbe nichts anderes. Wenn Muttersöhnchen zu Pickelträgern, Couch Potatoes und Neervensägen herangewachsen sind, konstituieren sich neue Gesellschaften für sie um den nunmehr hypothetisch gewordenen, aber mit realer Macht begabten Wickeltisch.
Wie schafft es ein Muttersöhnchen, seine Umwelt immer wieder aufs Neue zu unterwerfen? Das Muttersöhnchen ist auf dem Wickeltisch liegen geblieben und hat sich so einen kindlichen Charme bewahrt. Da schmelzen ganz andere Frauen als die Mutter dahin. Wollten sie sich nicht ohnehin kümmern? So lernt das Mutersöhnchen nie, verpflichtungsfähig zu sein. Bald ist von der wundervollen Symbiose zwischen Mutter und Kind nichts außer Vorhaltungen, Beschwerden und kleinliches Wünschen übrig geblieben. Ein Muttersöhnchen bleibt ein solches, selbst wenn es vierzig Jahre und älter geworden ist, weil es immer wieder neue Dienstboten findet.
Mittlerweile hat das Muttersöhnchen Menschen kennen gelernt, die sich seinem Herrschaftsanspruch nur bedingt unterwerfen. Da hilft auch kein Quengeln. Also kehrt das Muttersöhnchen zu seiner Mutter zurück. Auf sie, das weiß es seit Babyzeiten, ist immer Verlass. Sie hat sich ihrem Baby auf ewig dienstbar gemacht. Spätestens, wenn die Mutter hinfällig wird, hält das Muttersöhnchen nach Ersatzmüttern Ausschau. Zum Glück gibt es viele passende Gefährtinnen, die, auch wenn sie es nicht wissen, unterworfen sein wollen.
Mammakinder möchten weder zornig werden noch eingreifen, wenn sie die Erniedrigung der Mütter und Ersatzmütter durch Muttersöhnchen beobachten. Aber leicht fällt ihnen das nicht. Andererseits packt sie die irre Wut, wenn sie, was gelegentlich vorkommt, mit Muttersöhnchen verwechselt werden.
*
Viktoria ist das erste Mädchen, mit dem ich es über längere Zeit aushalte. Wenn ich sie auf eine meiner Reisen in die Vergangenheit mitnehme, gehe ich höhere Risiken ein.
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