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1943 prägen sich die eigentümlichen Merkmale meiner Mutters stärker aus. Oder so meinen die Leute. Sie zieht mir des öfteren Mädchenkleider an. Sie schenkt mir Puppen statt Panzer zum Spielen. Gelegentlich spricht sie so zärtlich zu mir als sei ich ein Mädchen. Sie knuddelt mich manchmal, als ob sie von Sinnen sei. Mein Vater sagt meiner Mutter: „Wie soll aus dem Kind ein richtiger Junge werden, wenn du ihn verzärtelst?“ Ich werfe ihm böse Blicke zu. Vielleicht ärgere ich dich später, denke ich, und lese viele Bücher. Nicht, dass mein Vater 1943 meine Blicke bemerken könnte.
Ich habe drei Erinnerungen an meine Mamma, die möglicherweise nicht durch die späteren Erzählungen meiner Schwester verfälscht werden. Oder ich glaube, sie zu haben. Diese ist die erste: Ich sitze im Wohnzimmer und spiele mit Klötzchen. Meine Mamma wuselt im Wohnzimmer um mich herum. Ich merke, dass meine Mamma nicht im Wohnzimmer ist. Ich stehe auf und laufe auf wackeligen Beinen ins Nebenzimmer. Das ist unser Schlafzimmer. Dort finde ich sie. Sie nimmt mich auf den Arm und lacht. Sie fragt: „Hast du mich gesucht?“ Ich schmiege mich an sie. Meine Mamma redet weiter. Mir genügt der Klang ihrer Stimme. Ich atme ihren Duft ein. Meine Mamma war nicht da. Ich habe sie gesucht und gefunden.
Dies ist die zweite Erinnerung an meine Mutter: Wir sitzen im Keller und rücken zusammen. Über uns bombardieren die Flotten der Alliierten solange das Ruhrgebiet, bis nichts übrig bleiben wird. Die Leute sind auch außerhalb des Bombenkellers freundlich zu mir. Aber jetzt sind sie noch freundlicher, weil ich sie von ihrer Furcht ablenke. Eine Person nach der anderen kommt bei mir vorbei, sagt: „Du, du“ und kneift mir die Wange. Ich spiele mit meinen Puppen Theater im Bombenkeller. So entsteht die eine und andere Geschichte. Die Leute im Keller haben sich um mich gruppiert. Am Ende gibt es Beifall und danach Applaus. Anschließend nimmt mich meine Mamma auf den Schoß. Bald gehen wir gemeinsam nach oben.
Das ist meine dritte Erinnerung an meine Mutter: Auf unserer Etage wohnen vier Parteien. Frau Bondzio ist eine von ihnen. Herr Bondzio tut, als erweise ihm seine Frau einen Gefallen, wenn er bei ihr wohnen darf. Den spräche keiner an, wenn er etwas von den Bondzios will. Der Mann hat genug damit zu tun, in den Schacht einzufahren und lebendig zurückzukehren, sagen die Kollegen. Ist das nicht der Mann mit zwei linken Händen, der auf jeder Schicht vom Unfall bedroht ist? Herr Bondzio wird von der Zeche entlassen, damit er nicht mehr sich und andere gefährdet. Als er ohne Lohntüte nach Hause zu kommen versucht, wirft ihn Frau Bondzio aus der gemeinsamen Wohnung.
Bis dahin scheint eine Art Gleichgewicht zwischen ihrem Mann und dem Kostgänger bestanden zu haben. Als der Ehemann aus dem Rennen geschieden ist, geht Frau Bondzio allein mit ihrem Kostgänger aus. Wer regelmäßig in die Gaststätte mit Dortmunder Kronen Bier einkehrt, sollte Frau Bondzio kennen. Wer hätte nicht ihr lautes Lachen gehört? Frau Bondzio fährt ihrem Kostgänger in der Kneipe im Erdgeschoss schroff über den Mund. Sie scherzt mit einem anderen Mann an der Theke. "Das muss ich mir nicht ein Leben lang antun", sagt der Kostgänger und zieht aus der Wohnung von Frau Bondzio aus.
Unsere Nachbarin bleibt guter Dinge und lädt zu Feierlichkeiten auf unserer Etage ein. Wer bald zur Schicht muss, ärgert sich, weil er bei diesem Lärmen auf der anderen Seite des Flurs schlecht einschläft.
Frau Bondzio umschmeichelt meine Mutter. Mein Vater sieht nicht gern, dass die beiden sich anfreunden. Er grummelt, Frau Bondzio führe ein leichtfertiges Leben. Was soll daran schlimm sein, ab und an ein Plausch an der Treppe? Das hat vielleicht meine Mutter gesagt.
Frau Bondzio deutet an, das Geld liege heutzutage auf der Straße. Einmal mit den Leuten lachen und scherzen, schon habe man sich einen schönen Abend gemacht. Danach könne man sich ein schönes Teil kaufen. Wie das? Meine Mutter ist verwundert. Frau Bondzio lacht. Schöne Sachen kaufen, sagt sie, wer möchte das nicht? Meine Mutter sieht Frau Bondzio aus großen Augen an. Sie träumt von einem Leben in der Stadt, das aus mehr als zwei Zimmern auf der dritten Etage oberhalb einer Kneipe mit Dortmunder Kronen Bier besteht. So stelle ich sie mir mitunter vor.
Komm mit, sagt Frau Bondzio. Wir machen uns einen schönen Tag. Hat nicht dein Mann Mittagsschicht? Dann fällt keinem was auf. Die anderen Kinder sind versorgt, sagt meine Mutter. Aber was mache ich mit meinem kleinen Jungen? Den nehmen wir mit, sagt Frau Bondzio. Ich sitze in Mädchenkleidern in der Kneipe mit Dortmunder Kronen Bier. „Der fängt ja früh an“, könnte einer der Gäste gesagt haben. Ein anderer fragt: „Was, das ist ein Junge?“ Ansonsten sind alle Gäste freundlich zu mir.
Gibt es nicht viele Sachen, die man sich kaufen möchte, fragt Frau Bondzio anlässlich ihres morgendlichen Plausches. Hast du das wunderschöne Teil im Fenster gesehen? Ich fand unseren gemeinsamen Abend auch lustig, sagt meine Mutter. Komm, ich beteilige dich an meinen Einkünften, sagt Frau Bondzio. Wir gehen gemeinsam einkaufen. Aber frage mich nicht, wie ich an das Geld komme. Wenn du darüber nichts sagen willst, musst du auch nicht, sagt meine Mutter. Du bist gar nicht neugierig, wie, fragt Frau Bondzio.
Über meine Mutter wird getuschelt. Was hat sie mit Gottfried Vacek im Sinn? Ein Kumpel sagt zum anderen: "Oberhalb der Kneipe mit Dortmunder Kronen Bier leben zwei Frauen." Mein Vater ist der letzte, der etwas erfahren wird. Das sind alles nur Andeutungen. Aber als er misstrauisch geworden ist, meint er, dass er Bescheid wissen müsse. „Ey, Steiger“, sagt er. „Kannst du dafür sorgen, dass ich vor Schichtende rauskomme?“ Mein Vater hat selten gefehlt. Er ist nur widerwillig in die Gewerkschaft gegangen, als man noch durfte. Wenn der Steiger ausnahmsweise eine Ausnahme macht, womöglich bei ihm. Andererseits kennt der auf Massenproduktion fixierte Bergbau keine abweichenden Fälle.
Mein Vater kommt unverhofft früher nach Hause. Ausnahmsweise ist die Wohnungstür abgeschlossen. So muss er den eigenen Schlüssel nehmen. Im Wohnzimmer ist keiner. Er macht die Tür zum Schlafzimmer auf. Dort ist auch niemand. Wo sind nur wir Kinder? Sollten wir uns in der Wohnung aufhalten, dann sieht uns mein Vater nicht.
Ein Mann kommt aus dem Kabuff hinter dem Wohnzimmer. Er grinst meinen Vater an und geht an ihm vorbei. Er verlässt die Wohnung. Es ist zu hören, wie er die Treppe herunter läuft. Mein Vater geht in das Kabuff hinter dem Wohnzimmer. Dort ist meine Mutter. Sie nestelt an ihrer Kleidung. Es gibt ein Geschrei. Mein Vater reißt meiner Mutter die Klamotten vom Leib. Er will sehen, ob er Samenspuren des Mannes am Unterleib meiner Mutter erkennen kann. So hat mir das später meine Stiefmutter erzählt.
Meine Schwester und ich kommen ins Spiel oder auch nicht. Jedenfalls sitzen wir im Wohnzimmer. Meine Mutter ist in das Schlafzimmer geflüchtet und hat die Tür zum Schlafzimmer abgeschlossen. Mein Vater hockt vor der Tür. Ich schaue auf sein Gesicht, das von Wut und Schmerz verzerrt ist. Meine Mutter schreit, mein Vater möge ihr verzeihen. Mein Vater ruft zurück, nein. Meine Mutter schreit, dann springe sie aus dem Fenster. Mein Vater sagt, dann tu´s doch.
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Man hat mich aus dem Ruhrgebiet gefahren und aufs Land katapultiert. So schlimm ist das nicht, nachdem ich mich an die neuen Leute gewöhnt habe. Meine Tante hat den Ofen im Wohnzimmer angemacht, weil Besuch erwartet wird. Jetzt bullert er kräftig. Als der Besuch gekommen ist, nimmt mich mein Onkel auf den Schoß. Ich werde schläfrig. Die Leute unterhalten sich. Ich wundere mich, weil ich auf einmal alles verstehe. Bald werde ich selbst Plattdeutsch sprechen. Mit diesem Gedanken schlafe ich ein.
Am nächsten Morgen sitze ich am Fenster. Ich schaue hinaus auf den vielen Schnee. Mein Onkel kommt herein. Sonst spricht er selten mit mir. Diesmal haben sich um seine Augen Fältchen gebildet. Ich bin sicher, dass er einen Scherz machen will. Mein Onkel behauptet, ein Zigeuner befinde sich im Anmarsch. Der wolle mit mir sprechen. Er fragt: „Wutte mol kieken?“
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