Als der Krieg ausbricht, hat sich der Hamburger Bruder zum Feldwebel hochgedient. Er lehrt die zwangsverpflichteten Rekruten, an immer neuen Fronten zu kämpfen. Die Soldaten, die vom Hamburger Bruder in den Krieg geschickt werden, eilen von einem Sieg zum nächsten, bis sich das Kriegsglück gewendet hat. Danach werden die Ausbildungszeiten kürzer. Der Feldwebel kann den Soldaten man eben das richtige Grüßen der Vorgesetzten beibringen, bevor der Oberbefehlshaber sie an die Front schicken muss.
Als sich der Krieg seinem Ende nähert, werden pubertierende Jugendliche ohne Ausbildung und fast ohne Bewaffnung an die Front geworfen. Sogar das Grüßen gilt fast als vernachlässigbar. „Ihr müsst sehen, wie ihr mit der Panzerfaust zurechtkommt“, sagt der Feldwebel. „Hier habt ihr ein Merkblatt. Lasst es euch gegebenenfalls von einem Spieß mit Fronterfahrung erklären, sollte genügend Zeit vor den Kampfhandlungen übrig geblieben sein.“ Am Ende ist der Feldwebel in seiner Rolle als Ausbildungsleiter überflüssig geworden. In den letzten Wochen des Krieges muss er selbst an die Front. „Untersteh dich, von unseren Feinden erschossen zu werden“, sagt der Schwiegervater. „Dafür gab ich dir nicht meine Tochter zur Frau.“
Der Bruder aus Hamburg wird von den heranrückenden britischen Truppen ins Bein geschossen. Das ist Glück im Unglück, da seine Kameraden zur Rechten und Linken tot umfallen. Nachdem sein verwundetes Bein unterhalb des Knies amputiert ist, humpelt er mit einem Holzbein einher.
Nach Kriegsende weiß die Hansestadt Hamburg die Verdienste des Bruders um unser Volk zu würdigen. Hat er nicht genügend viele junge Menschen in den Tod geschickt? Also vertraut ihm die Senatsverwaltung eine Position als Gerichtsvollzieher an. In dieser Eigenschaft entdeckt er ein Schnäppchen in Wandsbeck und ersteigert das Haus. So kann er seiner Frau ein schöneres Zuhause bieten als jemals in Grotebühl erbaut wurde. Er überlegt, ob er die buckelige Verwandtschaft einladen soll. „Bist du endlich zufrieden?“ fragt seine Frau. „Deine Familie wird mich nie akzeptieren“, antwortet der Hamburger Bruder, „und wenn ich dir ein Schloss geschenkt hätte.“ „Solches hättest du bei mir nicht nötig gehabt“, sagt die Frau. „Das hätte ich hören wollen, als ich Hafenarbeiter war“, sagt der Bruder aus Hamburg. "Damals hättest du nicht einmal Hochdeutsch verstanden", sagt seine Frau.
In einem Punkt trifft mein Vater es besser als seine Brüder in Hamburg und Sachsen. Als Bergmann muss er nur auf die siebente Sohle und nicht an die Front. Ohne den laufenden Abbau der Kohle ließe sich die Kriegsmaschine nicht in Gang halten.
Der jüngste Bruder ist der Liebling seiner Schwestern. Haben sie ihn nicht vom Tage seiner Geburt an hochgepäppelt? Zusätzlich ist er der Liebling seines Vaters. Das kommt, weil er von allen der Jüngste ist. Den jüngsten Sohn trifft es in Sachsen am besten. Er heiratet nicht in die bürgerliche Gesellschaft ein. Er bedient sie. Als Kellner hat sich der jüngste Bruder schick anzuziehen. Er stolziert mit Schwalbenschößen über die Weiden des Kirchspiels. Er zeigt den Bewohnern von Grotebühl soviel Geld, wie sie noch niemals gesehen haben. „Das ist alles Trinkgeld, das mir die Großen der Gesellschaft übereignet haben“, erklärt er.
Die Mädchen des Dorfes himmeln ihn an. So hätte er jede von ihnen bekommen können. Aber er zieht ein sächsisches Mädel vor. Als dieses zu Besuch nach Grotebühl kommen und ein kleines Mädchen vorzeigen will, sind alle gespannt. Kaum trifft sie ein, fällt die Verwandtschaft des Kirchspiels vor ihr auf die Knie. So was von Arbeitsamkeit und Hilfsbereitschaft und Bescheidenheit und Herzenswärme, sagen sie, und grenzen sich so von ihrer Hamburger Schwägerin ab. Die könnte beinahe eine von uns sein. Sogar der sächsische Zungenschlag ist weniger schlimm als er sich anhört. Kaum bricht der Krieg aus, wird der Bruder in Sachsen für die kommenden Kriegshandlungen in der Wehrmacht geschliffen. Bald marschiert er mehrere tausend Kilometer gen Osten. Dort und in Grotebühl und dazu in Sachsen wird er bis zum heutigen Tage vermisst.
Der Besuch meiner Schwester hat sich länger hingezogen als ich vorhatte. „Was sind das für Geschichten, die keinen was angehen?“ frage ich. "Das sind alles deine Verwandte", sagt meine Schwester, die mir wieder zu viel von Menschen erzählt hat, die mich nicht interessieren.
*
Mein Großvater genießt seine Tage, was auf dem Lande im Grunde verboten ist. Seine Kinder haben ihn zum vielfachen Großvater gemacht. Mittlerweile hat er derart viele Enkel, dass er sich nicht ihre Namen merken kann. Überall, wo er hinkommt, wird er von Enkelkindern erwartet. Die mittlere Generation spielt auch eine Rolle, aber die besuchte er ohne seine Enkel nicht.
Was das alles kostet, sagt der älteste Sohn verbittert zu seiner Frau. Es sind nicht nur die Reisekosten, die dermaßen ins Geld gehen. Der Großvater muss seinen Enkeln was mitbringen. Für die Enkelkinder stimmt nicht, dass der Großvater zu Weihnachten kommt. Vielmehr ist Weihnachten dann, wenn der Großvater kommt. So findet das große Fest für die Familie mehrere Male im Jahr statt. Mein Großvater fährt zu seinen Enkeln, wann er dazu Lust hat. Die Arbeiten auf dem Hof überlässt er seinen Erben. „Ne, ne, dat schöne Geld“,, sagt die Schwiegertochter.
Das wichtigste Ritual großväterlicher Besuche findet unmittelbar nach der Ankunft des Großvaters statt. Kurz zuvor ist mein Cousin mütterlicherseits mit seiner Familie eingetroffen. Mein Großvater hat an die Tür geklopft. Ihm wird aufgemacht. Der Großvater stellt sich in die Tür und lacht, weil er in Wahrheit der Weihnachtsmann ist. Wir Kinder stoßen uns mit den Ellenbogen an. Das ist eine Überraschung, dass der Großvater zu uns gekommen ist. Das mimen wir, wie unsere Eltern von uns erwarten.
Wir erfahren nicht, ob die Eltern wussten, dass der Großvater kommen wird. So oder so spielen sie das Spiel des Großvaters mit. Mit übertriebenen Gebärden stoßen sie ihre Kinder darauf, dass der Großvater gekommen ist. "Das hätten wir selbst nie herausgefunden", rufen wir. Beide Elternteile fragen uns, was gleich passieren mag. „Überraschung, Überraschung“, rufen wir, weil wir nach wie vor wissen, was sie erwarten.
Der Großvater holt hinter seinem Rücken einen Sack hervor. Er ist prall gefüllt. „Ho, ho, der war nicht einfach zu schleppen“, ruft er. Mit großer Gebärde schüttet der Großvater seinen Sack vor uns aus. Bei den Geschenken handelt es sich um kleine Süßigkeiten. Dazu kommt vielleicht eine Tafel Schokolade. Das eine und andere Spielzeug aus Holz oder Blech mögen dabei sein. Die Geschenke springen in alle Ecken. Unter den Enkelkindern des Großvaters setzt ein lustiges Gebalge ein. Der Großvater sieht auf das Darüber und Darunter wie das Holterdiepolter und erkennt statt seine Enkelkinder nur einen Wirbel. In unserer Familie wird das Einsammeln der Geschenke von meinem Cousin gewonnen. Im Wettbewerb vergisst er, dass er seine Beute später in Teilen wieder herausrücken muss. Damit verdient er sich ein Sonderlob, indem beide Väter sagen, mein Cousin habe gezeigt, dass er ein richtiger Junge sei.
„Das ist eine Geschichte über meinen Großvater“, sage ich. „Es ist keine Geschichte über mich. Wenn der Großvater war, wie du ihn beschrieben hast, hat er uns nicht einmal als individuelle Person erkannt.“ „Als du ein Kind warst, konntest du dich über rollende Schokoladenkugeln freuen“, hält meine Schwester dagegen. „Ich fand es sehr schade, dass unser Oppa so früh gestorben ist.“ „Wäre er seltener gereist und hätte er weniger für seine Enkelkinder ausgegeben, hätte ihn seine Schwiegertochter vielleicht nicht mit Rattengift umgebracht“, mutmaße ich.
Das sei eine Verleumdung des alten Dürkopp gewesen, wendet meine Schwester ein. Der habe es nicht verknusen können, dass sein Hof noch kleiner als der vom Oppa gewesen sei. Alle Mitglieder unserer erweiterten Familie seien anderer Meinung als der alte Dürkopp gewesen. Hatte unsere Familie nicht ein Interesse daran, ein Vorkommnis wie dieses unter den Teppich zu kehren, frage ich. Aber ich erkenne an, dass sich mein Großvater von den in Grotebühl herrschenden Zwängen so weit wie ihm möglich war freigemacht hat. Allerdings hat ihm das sein Leben gekostet.
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