Für heute habe ich beschlossen, mich näher an mein Geburtshaus zu wagen. Wir haben meinen Wagen oben am Berg geparkt. Das Zechentor und die Zeche dahinter haben aufgehört zu existieren. Hinter der Mauer wuchern, vom ständigen Fieseln in unserem Regenloch gedüngt, Pflanzen, die unter Naturschutzverdacht stehen. Vielleicht gibt es deswegen weit und breit keinen Gewerbepark. Viktoria und ich gehen den Berg hinunter. Früher gingen die Kumpels zu Hunderten vor Schichtbeginn in düsterem Schweigemarsch diesen Berg herauf. Diesmal sehe ich vor meinem hypothetischen Auge nicht, wie sie mir entgegenkommen.
Die Fassaden meines Geburtshauses sind die alten geblieben. Ich kam als Hausgeburt oberhalb einer Kneipe mit Dortmunder Kronen Bier zur Welt, während die Kumpels im Erdgeschoss ihren Zehntageslohn vertranken. Ich gehe am Haus vorbei, ohne einen Blick seitwärts oder zurück zu werfen. Da ich mich allem Anschein nach nicht aufgeregt habe, kehre ich zu meinem Geburtshaus zurück.
Der Gastwirt hat seine Kneipe dicht gemacht. Mit der Bergbaukrise sind ihm die durstigen Seelen abhanden gekommen. Ein einsamer Mann kommt aus dem Haus und ballert die Tür hinter sich zu. Er geht an mir vorbei die Straße herunter. Die Tür zu meinem Geburtshaus ist wieder geschlossen. Man benötigte einen Schlüssel, um das Haus zu betreten. Das gab es in den Vielfamilienhäusern in Bergarbeiterkolonien nicht. Die Besucher stiefelten die Treppen hoch und klopften an meistens nicht abgeschlossenen Türen. „Ey, Gerd, bist du da? Komm in die Puschen.“
Mittlerweile dürfte der Vermieter die Toiletten von den Zwischenstocks in die Wohnungen der Mieter verlegt haben. Sanierungen wie diese sind heute für jeden Hausbesitzer notwendig. Der Vermieter hat seinen Mietern eine Badewanne gestiftet. Danach erhöht er ihnen die Mieten. Die Bergschäden mit ihren schräger werdenden Wänden und dem sich täglich vergrößernden Fleck an der Decke bekommt er weniger leicht weg. Er kann nur hoffen, dass sein Haus unter Denkmalsschutz gestellt wird und die entsprechenden Fördergelder fließen.
Irgendwie komme ich den Berg hoch und kehre zu meinem Auto zurück. Während ich mich auf dem Fahrersitz niederlasse, wimmere ich als kleines Kind, in das ich mich gelegentlich rückwärts verwandele. „Was ist los mit dir?“ fragt Viktoria. Damit meint sie, dass sie sich einen anderen Freund suchen wird, damit ich mich ungestört mit den Freunden meiner Mutter auseinandersetzen kann.
*
Niemand verbietet uns, von unserer Mamma zu reden. Dennoch halten sich alle, die von meiner Familie übrig geblieben sind, an das Gebot, das es nicht gibt. Zwischen uns gibt es nur noch wenige Gemeinsamkeiten, außer dass wir uns anschweigen.
Wir haben unser Bestes gegeben, uns auseinander zu leben. Meine Schwester hat aus dem Wenigen, was ihr die Welt bot, das Bestmögliche gemacht. Wenn wir uns sehen, was selten genug vorkommt, vermeiden wir alles in unseren Gesprächen, was die Leichen unter unseren Betten in Versuchung führen könnte, sich zu wälzen, zu knarren und mit uns zu flüstern.
Mittlerweile bin ich der einzige Mensch auf der Welt, der sich für meine Mamma interessiert, auch wenn ich mich kaum an sie erinnere. Aber manchmal unterläuft meiner Schwester ein Satz über unsere Mutter. Sie sagt, dass sie zur Ungeduld neigte. „O ja“, bekräftigt sie, als habe die Angst des kleinen Mädchen vor ihrer Mutter nach all den Jahren weiter Bestand.
In der Mitte des Sommers kehre ich aus der Badeanstalt zurück. Ich hätte den Bus nehmen sollen, aber mir fehlte das Geld. Während ich von einer Straße in die andere biege, beknallt mich die Sonne. Sobald ich in unsere Wohnung zurückgekehrt bin, eile ich ins Badezimmer und hänge mich unter den Wasserhahn. Mein Vater beobachtet mich durch die offene Tür. Er schüttelt den Kopf und sagt: „Deine Mutter war ähnlich hastig. Für sie musste alles Schnell, schnell gehen.“ Wut kommt hoch in mir und verflüchtigt sich wieder, sobald ich ihn ansehe. Mein Vater ist von der Rolle, wenn es um mich geht. Ich habe vom ersten Tag meines bewussten Lebens an bedauert, dass ich ihm nicht weiter entgegenkommen kann. Ich haue mich auf die Couch und wende mein Gesicht der Wand zu. Das war ein anstrengender Tag, denke ich.
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Meine Eltern wandern getrennt voneinander ins Ruhrgebiet ein. Sie fühlen sich in den Städten verloren. Die Romantiker der Arbeiterliterliteratur bedachten nicht, dass sämtliche Einwanderer Bauernlümmel waren. Sie wollten nicht in die Hölle der Städte, nur weil die Hölle in den Dörfern eine andere war. Als meine Eltern einander kennenlernen, stellen sie fest, dass sie aus benachbarten Dörfern gekommen sind. Sie dürften über vier wenn nicht drei Ecken miteinander verwandt sein. Das wäre ein weiterer Grund, sich aneinander zu klammern.
Die Menschen im Ruhrgebiet wissen, dass sie nicht ins Landleben zurückkehren können. Das verdrängen sie zum Teil. Warum sollte man nicht, wenn einem die Maloche eine halbe Stunde übrig gelassen hat, mit dem Träumen beginnen? Für die lange Zeit, in der sie weder der Stadt noch dem Land angehören, richten sich die Einwanderer mit Kaninchen und Tauben eine Kleingartenidylle ein. Wenn sie zu Familienfeiern in die Dörfer zurückkehren, sprechen sie gebrochenes Platt und reden ihren Verwandten nach dem Munde, nur weil sie sich aus Heimweh nach dem Lande verzehren. Dafür schämen sie sich. Aber näher an die alte Heimat kommen sie nicht.
Auf dem Land kommt die Propaganda des Ruhrgebiets gegen sich selbst prächtig an. In Grotebühl hat sich herumgesprochen, wie tierisch im Ruhrgebiet malocht werden muss. Das soll schlimmer sein, als im Großen Moor Torf zu stechen. Haben nicht alle gesehen, wie verdreckt wir sind, wenn wir aus der Waschkaue kommen? Wenn wir ein weißes Hemd angezogen und uns einmal umgedreht haben, ist es vom Kokereistaub grau. Wühlen im Ruhrgebiet nicht Agitatoren, die verlangen, dass man den Bauern ihre Höfe wegnimmt? Allerdings staunen die Grotebühler, wenn sie hören, was im Ruhrgebiet verdient wird. Aber sie staunen noch mehr, wenn man ihnen sagt, was das Gemüse kostet, das man sich am Großen Moor umsonst aus dem Garten holt.
Meine Schwester hat die Begeisterung meiner Eltern für das Land übernommen. Ich sage ihr, dass das Leben hüben wie drüben weitgehend Ausschuss ist. So sehr die Leute sich abmühen, es reicht nur für ein Einkommen, nicht für ein Auskommen. Da gehen sie her und sterben dahin. So etwas will meine Schwester nicht noch ein anderer hören. Die geleckten Broschüren über das Ruhrgebiet mit ihrer verschwiemelten Sprache gibt es noch nicht.
Gleichwohl sind wir, dass muss ich widerwillig zugeben, mit den Leuten in der Knüste verwandt. Die Stimme des Blutes darf es nicht geben, aber Blut mag dicker als Wasser sein. Meine Tante kann unsere verwandtschaftlichen Beziehungen auf den Dörfern bis in entlegene Verästelungen wiedergeben. Mein älterer Bruder fragt sie dennoch nicht, weil er Abschriften benötigt, die von den Behörden zu beglaubigen sind. So schlägt er stattdessen in Kirchenbüchern nach.
Diese reichen bis ins Jahr 1636 zurück, als der Feldherr Tilly sein Lager unter der großen Eiche auf dem Marktplatz von Grotebühl errichtete. Die Eiche hat bis heute den Untergang vieler Generationen und mehrere Kulturen überlebt.
Tilly gibt seinen Landsknechten freien Lauf, weil die Grotebühler seiner Forderung nach Herausgabe von ihm aufgelisteter Reparationen nicht nachkommen wollen. Selbst wenn sie wollten, sie könnten es nicht. Sie behaupten frech, sie besäßen nichts. Erst nehmen sich die Landsknechte die Dorfmitte vor. Später machen sich kleinere Trupps zu den Höfen an der Peripherie auf. Einige Bewohner von Grotebühl sind vorher ins Große Moor geflohen. Als die Flüchtlinge zurückkehren, sind die Höfe niedergebrannt und die zurückgebliebenen Bewohner gefoltert und erschlagen. In Grotebühl ging es schlimmer als im Simplicissimus zu.
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