Das ändert sich, als ich merke, dass eine öffentliche Debatte um Nazis und Juden getrieben von einem Medium allmählich heranreift. Das wird mir mit der Ausgabe 31 des Jahrgangs 1957 des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL ein erstes Mal klar. Auf dem Titel befindet sich der französische Ministerpräsident Felix Houphouet-Boigny . Sie müssen sich diesen Namen nicht merken. In der vierten französischen Republik wurden die Ministerpräsidenten alle drei Stunden abgelöst.
In Grotebühl wissen wir wenig davon, dass das britische Militär unsere Regierung stellt. Folglich meinen wir, wir könnten wie bisher weitermachen. Tatsächlich übt die Militärregierung einen nachhaltigen Einfluss auf die Geschichte der späteren Bundesrepublik Deutschland aus, unter anderem bei den Medien. Das werden wir, die wir auf den Dörfern wohnen, erst in den kommenden Jahren gewahr.
Auf den Straßen des Königreiches Hannover wandert ein Landser. Jens Daniel sucht einen britischen Besatzungsoffizier auf. Er hat sich das amerikanische Nachrichtenmagazin TIME angesehen und will es kopieren. Der britische Militäroffizier lässt sich überzeugen und sagt: „Dann machen Sie mal.“ Der Gründer des SPIEGELs hat das Nachrichtenmagazin TIME missverstanden. In den Vereinigten Staaten liest kaum jemand eine Zeitung. TIME liefert den Amerikanern einen Readers-Digest -Überblick über die aktuellen Entwicklungen zu Hause und in der Welt. Letzteres ist nötig geworden, weil die Amerikaner den Kalten Krieg gewinnen wollen und sich fast überall eine neue Front aufgetan hat. Jede Story ist superkurz und mit einer Prise Patriotismus gewürzt. Mittlerweile sind wir alle Anhänger des Amerikanischen Traums . Jahrzehnte später frage ich mich, ob ich Amerikaner geworden oder Deutscher geblieben bin. Zur Jahrtausendwende bin ich ein Pidgin-Amerikaner mit einem 50-jährigen Abonnement von TIME.
Wenn Jens Daniel einen Kommentar für den SPIEGEL zu schreiben beginnt, hört er nie auf. Kommt er dennoch ans Ende, ist er sein einziger Leser geblieben. Nein, ich bin sein zweiter. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ein dritter seine Serien liest. Ich schaue mir ein Bild von Jens Daniel an. Er ist ein schmächtiges Kerlchen. Wenn sein schriftliches Wort wie Donner hernieder fährt, meint man, dass er den Krach, den er schlägt, nötig hat, weil er als Individuum Kompensationen benötigt. Jens Daniel weist nach, dass eine unabhängige, faktengesättigte und oppositionelle Berichterstattung in der jungen Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist, indem er sie macht. An der mangelnden Faktenorientierung und dem fehlenden argumentativen Niveau aller Parteien mag die Weimarer Republik zugrunde gegangen sein.
Mein Vater sieht einen in der ersten Nachkriegszeit führenden Gewerkschaftssekretär auf seiner Zeche sehr kritisch. Angeblich zog dieser in den 20er Jahren an jedem Freitag die SA-Uniform an. Am Samstag trug er die Uniform der Kommunistischen Partei Deutschlands. Einmal prügelte er sich mit der einen Seite, dann mit der anderen. Eine Wirklichkeit wie diese konnte in der Presselandschaft der Weimarer Republik nicht dargestellt werden. Noch wäre möglich gewesen, dass eine sozialdemokratische Zeitung einen Funktionär der Kommunistischen Partei Deutschlands interviewte. Stattdessen schlugen sich die bei den Parteien angestellten Schreiberlinge nur für Insider verständliche Leitartikel um die Ohren.
In den 50er Jahren bin ich begeisterter Zeitungsleser geblieben. Im Vergleich zur Forke haben die Zeitungen im Ruhrgebiet das bessere Layout. Nach wie vor befinden wir uns im Zeitalter der Weltanschauungszeitungen, so dass keine politische Seite mit der anderen spricht. Schreiber und Leser hausen in voneinander abgeschotteten Lagern. Sie mögen auf der siebenten Sohle zusammenarbeiten, aber in politischen Gesprächen ziehen sie nur übereinander her.
Die Briten würden meinen Vater einen Conservative Worker nennen. Er kann nicht anders, weil er seine Kindheit in Grotebühl verbracht hat. Nach wie vor erfüllt ihn das Geschrei der Betriebsräte mit Unbehagen. Warum arbeiten diese Leute nicht statt zu agitieren? „Sie wollen immer nur mehr“, sagt mein Vater. „Sie wissen nicht, dass erst erarbeitet werden muss, was später verteilt wird.“ Habe ich mir diese Sentenz nicht vor wenigen Tagen aus den Revier Berichten gemerkt?
Glücklicherweise stellt sich die Frage in unserem Haushalt nicht, ob wir eine Zeitung abonnieren wollen. Mein Vater hat sich für die Revier Berichte entschieden. Das ist das Verlautbarungsorgan der Katholischen Arbeiterbewegung. Diese bejubelt die Bundesregierung täglich, weil die Katholische Arbeiterbewegung den Bundeskanzler stellt. Die Revier Berichte haben die Kunstform der Karikatur aus der Welt der angelsächsischen Zeitungen übernommen und auf die deutschen Verhältnisse angepasst. In fast jeder Karikatur tritt Bundeskanzler Konrad Adenauer auf. Er ist hochgewachsen, agiert souverän und zeigt ein spitzbübisches Lächeln. Mit Adenauer kommt Oppositionsführer Erich Ollenhauer ins Bild. Er ist klein, rund, trägt Locken sowie eine krumme Nase. Viel später stellt sich mir die Frage, ob Ollenhauer ein Jude gewesen und als solcher dargestellt worden ist. Je nach Anlass tritt Adenauer Ollenhauer in den Hintern. Oder er nimmt ihn in den Schwitzkasten. Oder er sperrt ihn in eine Kiste. Das finden wir Leser der Revier Berichte lustig.
Der Ückendorfer Anzeiger ist leider nicht besser. Hier werden die Verlautbarungen der Oppositionspartei abgedruckt, wie sie die Baracke des Parteivorstandes in Bonn herausgibt. Keiner der Geisterschreiber in der Baracke war jemals im Ruhrgebiet. Da kann es nicht ausbleiben, dass sich kein Kommentar mit den besonderen Verhältnissen im Ruhrgebiet befasst. Das ist auch nicht nötig, solange wichtigere Aufgaben wie die Erhaltung des Weltfriedens und der Aufbau der Demokratie in der Bundesrepublik zu bewältigen sind.
1955 lernen die Bilder das Laufen, auch wenn sich keiner ein Fernsehgerät leisten kann. Meine Stiefmutter bedrängt meinen Vater, einen Fernsehapparat zu kaufen. Sie verzichtet dafür auf die Hälfte ihres Haushaltsgeldes. Als der Fernseher gekauft ist, wird das Haushaltsgeld auf ihr Betreiben auf den Stand von früher gesetzt. Das Fernsehen schwankt zwischen der Hofberichterstattung der Tagesschau und dem Geschwätz des Internationalen Frühschoppens mit fünf Journalisten aus sechs Ländern . Wenn seine Gäste drohen, substanziell zu werden, fährt Werner Höfer mit den Worten dazwischen: "Glauben Sie auch, dass die Deutschen geliebt werden wollen?"
Im Gegensatz dazu bereiten sich die Redakteure des SPIEGELs auf ihre Gespräche mit Interviewpartnern intellektuell vor. Sie zerzausen die Argumente ihres Gesprächspartners, bis nichts von ihnen übrig geblieben ist. Sie finden sogar eigene Argumentationsmöglichkeiten. Am Ende bittet der Gesprächspartner die Redakteure, von ihnen erschossen zu werden. Die SPIEGEL-Redakteure sagen stattdessen: „Herr Freiherr von Gummersbach, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.“
Im September 1957 steht die dritte Bundestagswahl an. Eine Woche zuvor kommt der SPIEGEL mit einer Titelgeschichte über Bundeskanzler Adenauer heraus. Sein Gesicht ähnelt einer Totenmaske. Das signalisiert, dass der Bundeskanzler in den Stand der Demenz eingetreten ist. In der Geschichte dazu wird die Politik der Bundesregierung zu medizinischen Gutachten über die geistige Gesundheit des Kanzlers in Beziehung gesetzt. Offensichtlich ist ein Ausverkauf der Interessen Deutschlands an den Westen und die Verhinderung der Wiedervereinigung möglich geworden, weil der Kanzler geistig abgebaut hat. So frech müsste man sein dürfen, denke ich, während man sich im eigenen Leben durchzuschlagen hat, und damit durchkommen. 1957 gewinnen Konrad Adenauer und seine Partei die absolute Mehrheit im Bundestag. Das wird vor ihm und nach ihm kein Kanzlerkandidat schaffen. .
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