Wo steckt das Geheimnis? Ist es die Tonfolge dieses ihm vom Himmel gesandten Themas? Ist es die Spannung zwischen den Klängen? Oder ist es die Spreizung der Harmonien, die er plötzlich wahrzunehmen glaubt?
Und auf einmal liegt es auf der Hand, wohin ihn seine Verrücktheit führen wird und wo der Sinn seiner Seelenstörung verborgen ist. Seine Musik birgt eine okkulte Kraft, die sowohl zerstörerisch als auch schöpferisch wirkt. Er muss diesen gefährlichen Weg gehen und das Schöpferische über das Zerstörerische siegen lassen. Er muss die Tonfolge seines geliebten Themas zur Fuge weiterentwickeln, bis er die nötige Kraft und Macht erlangt, um die Dämonen dieser Welt zu zerstören. Und dazu braucht er die Ruhe und Geborgenheit einer Nervenanstalt. Das Irresein soll zum Triumph der Musik werden!
Der Drang zur Eile steigert sich plötzlich ins Unermessliche. Eine freudige Erregtheit überfällt den Mann. Er zeichnet die ins Reine geschriebenen Variationen mit einer Widmung an seine Frau, ruft den Wärter und bittet ihn, die Schrift möglichst rasch seiner Gattin zu überbringen. Er führt jetzt Höheres im Schilde. Er will seiner Frau wieder würdig sein. Er will ihre Liebe zurückerobern und ihr seine Liebe zurückgeben, die er ihr geraubt hat.
Der Musiker hat sich ermüdet und er legt sich hin. Er ist sich gewiss, dass sich die Dinge zum Guten entwickeln werden. Es scheint, dass nun alles geregelt ist. Ruhe und Ordnung sind eingekehrt. Herrliche Musikklänge begleiten einen erholsamen Schlaf.
Pochen, wildes Pochen, krächzende Stimmen, verzerrte Bässe wecken den Mann. Er schreckt auf, schreit wild nach dem Wärter und verlangt nach Dr. Haslebner. In wenigen Minuten steht dieser vor ihm und muss eine Schimpftirade über sich ergehen lassen. Dabei versteht er kaum ein Wort des Erregten. Endlich begreift Dr. Haslebner, worum es geht. Der Kompositeur will unbedingt in eine Irrenanstalt eingewiesen werden. Und zwar möglichst unverzüglich, ohne Rücksichtnahme auf seine Familie. Er soll seine Frau benachrichtigen.
Schweren Herzens macht sich der Arzt und Freund der Familie auf, diesen schwierigen Auftrag zu erfüllen. Er nimmt seinen Patienten nochmals in die Arme, drückt ihn heftig an sich und verlässt das Haus mit feuchten Augen.
Es ist herrliches Wetter und die Sonne scheint warm, ein richtiger Vorfrühlingstag, als Dr. Haslebner mit einer Droschke vorfährt und sich mit zögerndem Schritt der Haustüre an der Bilkerstrasse nähert. Er hält inne, als müsste er sein Vorhaben nochmals überdenken. Er hat am Vortag mit seinem Freund und allseits gerühmten Nervenarzt Doktor Ferdinand Reichherz, dem Direktor der neulich eröffneten Privatheilanstalt in der Nähe von Bonn, gesprochen und ihm die bedauerliche Verschlechterung des Geisteszustandes seines Patienten geschildert. Dr. Reichherz hat viele Arbeiten über Hirnerweichung und „Paralysie générale“ verfasst und ist der Ueberzeugung, dem Musiker helfen zu können. Er will ihn in seiner Anstalt isolieren, von allen äusseren Einflüssen abschirmen und auch die Familie von ihm fernhalten, damit sein Geist wieder zur Ruhe kommt. Er wird sich zusammen mit seinem Assistenten Dr. Ulrich Sperreisen mit aller Kraft und von Herzen für den berühmten Patienten einsetzen. Die Frau des Komponisten ist in ihrer Verzweiflung in Panik ausgebrochen, als er ihr die konkreten Schritte erklärt hat. Es war eine seiner schwierigsten Handlungen in seinem Arztsein.
Nun muss er die Türe öffnen und das Unvermeidliche zu Ende führen. In der Hand trägt er einen Blumenstrauss, den ihm die Frau des Musikers übergeben hat. Ein Liebesgruss an ihren Gatten.
Die Türe öffnet sich von innen und der Mann steht vor ihm, erhobenen Hauptes, ohne Rock und in Hausschuhen. Sein Gesichtsausdruck ist verklärt. Den Blumenstrauss nimmt er lächelnd entgegen. Dann schreitet er zur Kutsche, der Arzt hinterher.
Die Türen schliessen sich und der Kutscher treibt die Pferde in den Trab. Die Droschkenräder hinterlassen ein ächzendes Knarren und das Gefährt entschwindet im Staub. Eine graue Wolke legt sich vor die Sonne und die Stimmung verdüstert sich.
Berlin, Charlottenstrasse, 6. Juni 2010
Ein warmer Frühlingstag kündigte sich an. Die ersten Sonnenstrahlen drängten sich zwischen die Häuserreihen. Am Gendarmenmarkt strich ein leiser Wind durch die Bäume und die Vögel ermunterten sich gegenseitig in ihrem Morgenkonzert. Unweit davon, in Richtung Unter den Linden, bewegte sich im 2. Stock eines gutbürgerlichen Wohnhauses ein offenes Fenster sanft hin und her, als wollte es den neuen Tag willkommen heissen. Die anderen Fenster waren noch fest verschlossen. Es war Sonntag und die geschäftigen Bewohner Berlins genossen noch ihre verdiente Nachtruhe.
Ein Vogel hatte es sich auf dem Fenstersims des offenen Fensters bequem gemacht und blickte unruhig nach allen Seiten. Er schien den seltsamen Geruch wahrzunehmen, der dem Zimmer entwich. Und auch das leise Schluchzen, das im frühmorgendlichen Vogelgezwitscher beinahe unterging. Mit einem sanften Flügelschlag hob der Vogel ab und suchte das Weite.
Eli sass zusammengekauert in einer Ecke des Musikzimmers und weinte, den Kopf vornüber, gleich einem Häufchen Elend. Ihr Körper zitterte. Trotz ihrer 24 Jahre hätte eine aussenstehende Person die zusammengekrümmte Gestalt für ein Kind halten können. Eli war nur mit einem ausgefransten T-Shirt und einer ausgelaugten Jeans-Hose bekleidet. Die Füsse waren nackt und schmutzig. An einem Ohrläppchen hingen drei Piercings und ebenso war der linke Lippenwinkel mit einem schillernden Ring durchstossen. Wenn Eli den Kopf anhob, erkannte man ein schlankes, feines Gesicht mit tiefgründigen, grünen Augen. Der Blick wirkte verloren, in die Unendlichkeit gerichtet, als gebe es keine Grenzen.
Eli weinte um ihren Grossvater. Ohne aufzublicken sah sie ihn deutlich vor sich, wie er, bäuchlings ausgestreckt, von der Klavierbank bis über die Tasten und weit in den offenen Flügel hinein dalag. Seine Finger hatten sich tief in die Saiten des Pianofortes verkrallt, als wollten sie nach etwas greifen. Die Notenbank lag am Boden. Ein Durcheinander von Notenheften türmte sich daneben wie hingeschmissen.
Eine offene Wunde an der Schläfe des Toten war rot gefärbt und eine dünne Blutspur suchte sich einen Weg über den Resonanzboden des alten Musikinstruments. Es war eine Szene wie aus einer anderen Welt, aus einer alten, vergangenen Welt. Ein Toter, der sich nicht von seinem Klavier trennen konnte, der sich dagegen wehrte, die Welt seiner Musik zu verlassen, sich verzweifelt an die Saiten klammerte, denen er während seines Lebens Klänge entlockt hatte.
Es war Musikprofessor Siegfried Gottesmann von der Musikhochschule Berlin, der Erbe einer wahren Dynastie von Musikern. War es nicht ein schöner Tod für einen Pianisten, inmitten der Klänge seines Instruments zu sterben? Und doch zeichneten die groteske Haltung des Mannes und seine verkrampfte Gestik ein Bild voller Dramatik. Ein Gemälde aus den finsteren Tiefen menschlicher Existenz. Man konnte den Aufschrei der umklammerten Klaviersaiten beinahe hören. Als wollten die drahtigen Klangkörper ein Geheimnis zurückhalten.
Eli schluchzte leise vor sich hin.
„Ich habe ihn umgebracht. Wie konnte es geschehen? Was ist in mich gefahren? Diese Wut. Ja, er hat mich gequält. Mit seiner Geheimnistuerei. Mit seiner Besserwisserei. Mit seinem Anspruch, über mich zu bestimmen und zu richten. Diese Erniedrigungen. Ich bin eine erwachsene Frau, promovierte Kunsthistorikerin. Er hatte kein Recht, mich wie ein Mündel zu behandeln, auch wenn er mich grossgezogen hat.
Ist es meine Schuld, dass sich meine Mutter aus Verzweiflung das Leben genommen hat? Dass sie die Paranoia ihres Mannes nicht mehr verkraften konnte? Auch sie hast du, Grossvater, erniedrigt, weil du mit ihrer Heirat nicht einverstanden warst. Du warst schuld an der Familientragödie, die mich zur Waise gemacht hat als mein wahnsinniger Vater in der Irrenanstalt starb.
Читать дальше