Je nachdem, wie hoch oder wie niedrig die Außentemperatur war, welcher der tote Körper ausgesetzt blieb, denaturierten infolge des Ausbleibens der Muskelbewegungen die Eiweiße des Körpers und bildeten allmählich ein starres Netz.
Die Totenstarre, der Rigor mortis, setzte ein. Beginnend bei den Augenlidern, setzte sie sich allmählich über die Kaumuskeln und die kleineren Gelenke des Toten, über die Muskulatur des Nackens, über den Hals, immer weiter körperabwärts fort, bis sie nach annähernd zwölf Stunden schließlich den gesamten Leichnam erfasst hatte.
Hitze beschleunigte diesen Vorgang, Kälte hingegen verlangsamte ihn.
Die allgemeine Erschlaffung sämtlicher Muskeln führte zunächst dazu, dass sich sein Kiefer weit öffnete.
Sein Körper kühlte allmählich immer stärker aus. Beginnend von den 37 Grad Celsius, die sie zu Lebzeiten betragen hatte, fiel seine Körpertemperatur nun um fast ein volles Grad je Stunde, bis sie sich vollständig der Umgebungstemperatur angleichen würde.
Seine Haut färbte sich auffallend blass und seine Hornhaut wurde trocken und trüb.
Allmählich und unaufhaltsam schwand auch das intermediäre Leben aus dem bewegungslosen Körper. Es umfasste jenen Zeitraum, welcher üblicherweise zwischen dem Hirntod und dem Tod auch der allerletzten Zelle im Inneren des Körpers verstrich.
Am längsten hatten die Knorpel und die Hornhäute seiner Augen durchgehalten. Es waren dies jene Gewebe, welche nur indirekt und zwar über Diffusion, an den Blutkreislauf und an die Versorgung mit Nährstoffen angeschlossen gewesen waren.
So markierten Herztod, Hirntod, allmähliches Absterben aller seiner Körperzellen im Prozess des intermediären Lebens, bis hin zum absoluten Tod, dem Zelltod, die einzelnen Phasen seines Hinübergleitens.
Während er zunächst sein Bewußtsein verloren hatte, während er auf der Bank am Gate zur Seite gesunken war, während seine Atmung flacher geworden war und der Herzschlag allmählich ausgesetzt hatte, während zunächst sein Sehvermögen und zuletzt schließlich auch seine akustischen Wahrnehmungen geschwunden waren, hatte er gewusst, dass er gerade dabei war, zu sterben.
Es hatte ihn entsetzt und er hatte sich mit allen Fasern seines Seins dagegen gesträubt, aber die brutale Heftigkeit des Schmerzes in seiner Brust hatte ihm zugleich die Endgültigkeit und die Unumkehrbarkeit des Vorganges deutlich gemacht.
Er begriff, entsetzt und verängstigt, dass er sein eben nun nicht mehr in der Hand hatte. Er konnte sich innerlich sträuben, soviel er wollte, er würde dennoch sterben. Und in Sekundenbruchteilen kamen ihm all die Sünden und Versäumnisse seines Lebens zu Bewußtsein.
Er ärgerte sich, zu oft Dasjenige getan zu haben, was andere von ihm erwartet hatten und nicht unbeirrt seinen eigenen Weg gegangen zu sein.
Er bedauerte, während er mit verlöschendem Bewußtsein auf die Sitzfläche der Bank sank, dass er zu wenig Zeit für Frau und Tochter erübrigt hatte. Dass er seine Liebe und seinen Stolz auf Frau und Kind nicht stärker und häufiger zum Ausdruck gebracht hatte. Dass er zu wenig Zeit mit seinen Freunden verbracht und dass er sich selbst stets zu wenig Freude gegönnt hatte.
Er hatte, eingebunden in Arbeit und familiäre Pflichten, eingebunden in den Zwang, Geld verdienen zu müssen, um die Rechnungen bezahlen zu können, viel zu wenig gelacht und er hatte es längst verlernt, wie es war, albern zu sein.
Und erstaunt stellte er nun, am Ende seines irdischen Daseins, fest, wie banal und unwichtig doch all die äußeren Umstände eines Menschenlebens waren, denen üblicherweise viel zu viel an Bedeutung beigemessen wurde.
Verblüfft realisierte er, dass es den Menschen gegeben war, sich entweder bewußt für Glück, Unbeschwertheit und Freude zu entscheiden oder aber für das Geldverdienen und das banale Anhäufen materieller Reichtümer und dass sich die Mehrheit seiner Zeitgenossen, er selbst natürlich eingeschlossen, stets für den letztgenannten Weg entschieden hatte.
Dann unterblieb, infolge seines Herzstillstandes, die Versorgung seines Gehirns mit frischem Blut und damit auch mit Sauerstoff und Nährstoffen.
Durch den einsetzenden Hirntod versiegte die elektrische Aktivität im Innern seines Schädels.
Alle zerebralen Funktionen, wie Wahrnehmung und Bewußtsein und die zentrale Steuerung wichtiger Lebensfunktionen des Körpers, sofern sie an Herzschlag und Atmung gebunden waren, setzten für immer aus.
‚Das ist der Tod!‘, dachte er entsetzt, während es Nacht um ihn wurde und während er spürte, wie sein Körper allmählich erlahmte und damit aufhörte, um das nackte Überleben zu kämpfen.
Zu seinem schieren Entsetzen endete jedoch keinesfalls seine Fähigkeit klar zu denken oder emotionale Empfindungen zu verspüren, so dass er sich verwundert fragte, ob er nun tot sei oder nicht.
Eine tiefere innere Gewissheit erfüllte ihn jedoch, wonach er nun tot sein müsse.
Er erkannte, irgendwie über diese Tatsache entsetzt und zugleich erbost darüber, weil er seinen plötzlichen Tod auf dem Airport als ungerecht empfand, dass er tatsächlich gestorben war und dass es nun für ihn keinen Weg mehr gab, zurück ins Leben.
Er beschloss, dagegen anzugehen, diese Gewissheit zu bekämpfen und sich um sein Leben zu bemühen, notfalls auch mit physischer Gewalt und er war erstaunt, welche inneren Kräfte er dabei in sich selbst mobilisieren konnte.
Tatsächlich aber hatte er bereits jetzt nichts mehr zu tun mit jenem Körper, der dort auf der Bank am Gate 1 des Flughafens lag, eine Zeitung in der Hand, hingesunken auf sein Handgepäck und mit halb geöffneten Augen und weit offenem Mund.
Er wunderte sich, dass er jetzt, nachdem vorübergehend Nacht um ihn gewesen war, wieder sehen konnte und dass er anscheinend unter der Decke des Flughafens schwebte, deren Muster er so oft betrachtet hatte, während er hier darauf warten musste, dass sein Flug sein München aufgerufen wurde und das Boarding begann.
E schien tatsächlich so zu sein, wie in all diesen Berichten, von denen er gelesen hatte und er hatte das Empfinden, sich körperlos und in Gedankenschnelle überall hin bewegen zu können, nur nicht zurück in seinen toten Körper. So, wie ein unsichtbares UFO. Und er dachte darüber nach, was er wohl jetzt wäre, vielleicht ein Lichtpunkt oder ein Nichts. Ein unsichtbares Nichts und doch in unheimlicher Weise von all seinen Erinnerungen, seinem Wissen, seinen Ängsten, Hoffnungen und Gefühlen beseelt. Da ergriff ihn eine mächtige Angst, dass irgendetwas mit seinem Sterben vielleicht schief gelaufen sein könne, dass er doch eigentlich weder Sehen, noch Fühlen dürfe, sondern in eine Art von Koma oder tiefem traumlosen Schlaf fallen müsse.
Da er aber diese Angst fühlte, erfüllte ihn auf einmal so etwas, wie tiefer Friede und eine heimliche Art von Glückseligkeit darüber, dass er sein Leben erfolgreich gelebt hatte und nun in der Lage sein würde, sämtliche Zusammenhänge des Universums vollständig zu begreifen und zu erkennen, weil sie ihm in seiner jetzigen Sphäre vollständig offenbar werden würden.
Sein Körper, wie er dort halb hingestreckt auf der Bank lag, umringt von den Neugierigen, die die herbei geeilten Sanitäter vergeblich zurückzudrängen suchten, erschien ihm auf einmal alt und krank und schwächlich. Und er war entsetzt über das Maß an Gebrechlichkeit, welches dieser Körper jetzt auf einmal offenbart hatte.
Er sah den Sanitätern zu, wie sie darüber diskutierten, wie lange die Wiederbelebungsmaßnahmen an seinem toten Körper noch fortzusetzen waren. Der eine Sanitäter beharrte darauf, dass bis zum Eintreten der sicheren Todeszeichen wiederbelebt werden müsse, der andere Sanitäter verwies jedoch darauf, dass die Maßnahmen bei Eintreffen eines Arztes abgebrochen werden könnten.
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