ZWEITES KAPITEL
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, doch die Hitze, die sie herabsandte, konnte die Menschen nicht vertreiben. Die Stadt war erfüllt von Leben. Man machte Einkäufe, saß in Cafés oder Restaurants unter riesigen Markisen, stand Schlange an Eisdielen oder flanierte, nur so zum Spaß, die Straßen entlang.
Victor marschierte, vom Parkplatz kommend, den Hafen entlang. Die Straße war breit genug, um die Autos durchzulassen, welche, durch den starken Fußgängerverkehr behindert, nur im Schritt fahren konnten. Das Trottoir an der Meerseite war angefüllt mit Malern, Kunsthandwerkern und fliegenden Händlern, die ihre Erzeugnisse zum Verkauf anboten.
Den Häusern der Stadt sah man an, daß sie auf natürliche Weise gealtert waren: ungepflegt bis an die Grenze der Verwahrlosung, aber dennoch von unvergleichlichem südländischen Reiz. Die Straße machte nun einen Knick nach links zum Zentrum des Hafens – zu den Anlegestellen der Renommier-Yachten.
Ein Polizist in blauer Uniform schritt gemächlich vor Victor dahin, gefolgt von einem unangenehm aussehenden Typen, der ein Penner zu sein schien. Ungefähr zwei Meter vom Rücken des Polizisten entfernt, gab er ein Geräusch von sich, das dem eines sich Erbrechenden nicht ganz unähnlich war. Der Polizist, über diese Herausforderung höchst verärgert, drehte sich um und ging ganz langsam auf den Penner zu. Zur gleichen Zeit sah Victor aus einem Hauseingang einen Mann in Zivil dem Uniformierten zur Hilfe eilen. Einige Worte, die er nicht verstehen konnte, weil er sich etwas weiter entfernt befand, wurden gewechselt, dann nahmen die beiden den Penner in die Mitte. Dieser nahm die Arme hoch, ein höhnisch-überlegenes Grinsen im Gesicht, als wollte er aller Welt zurufen: »Seht her, Leute, das ist unsere Polizei! Du kannst auf der Straße nicht einmal mehr rülpsen oder furzen, ohne daß sie dich hopsnehmen!«
Der Polizist in Zivil indessen war hinter ihn getreten – zwei furchtbare Handkantenschläge in die Nieren – das Grinsen fiel ihm buchstäblich aus dem Gesicht und er klappte wie ein Taschenmesser zusammen. Ohne weiteres Aufsehen zu erregen, führten ihn die beiden Polizisten, wie Victor mutmaßte, zur Wache.
»Das war's dann wohl«, dachte sich Victor und steuerte die nächste Bar an, um den Schrecken herunterzuspülen. Die Plätze im Freien waren alle besetzt, also ließ er sich im Innenraum nieder.
Ein ständiges Kommen und Gehen pulsierte durch das Lokal, dessen Besitzer als einziger am Hafen eine Lizenz für den Verkauf von Tabak besaß. In Frankreich gibt es nämlich keine Zigarettenautomaten und den »Blauen Dunst« kann man nur in Geschäften mit dem Titel »Bureau de Tabac« oder »Bar Tabac« – kurz »Tabac« genannt, erwerben. Zwei Verkäuferinnen versuchten, dem Ansturm der Kunden gerecht zu werden, die Bedienungen riefen dem Tresenmann – sein Gesicht erinnerte Victor an ein Loriot-Männchen – und seiner Helferin ihre Bestellungen zu. Zwei Jugendliche, sie mochten wohl sechzehn Jahre alt sein, spielten an einem Flipper-Automaten. Eine Musikbox trug ihren Senf zu der mit vielfältigen Geräuschen durchsetzten Atmosphäre bei. Die Spiegelfront, sich ebenfalls wie der mächtige Tresen durch das ganze Lokal ziehend, ließ den Raum optisch größer erscheinen. Die Einrichtung stammte noch aus der Zeit anfang der sechziger Jahre und war dementsprechend abgenutzt. Zwei Reihen unverkleideter Neonröhren an der Decke spendeten diffuses Licht.
Die Juke-Box hatte aufgehört zu spielen. Der größere der beiden Jungs vom Flipper-Automaten trat an Victors Tisch und fragte herausfordernd: »Haste mal nicht eben zwei Francs für die Musik?«
»Habe ich schon, aber ich gebe sie dir nicht, denn ich hasse diese dämlichen Musikboxen!« antwortete Victor und deutete auf seine Gitarre, als ihn der Junge verwundert anblickte. »Sieh mal... Mit diesem Instrument verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Auf der Straße und in Kneipen. Frage ich nun den Patron eines Schuppens, in dem solch ein Verblödungsapparat steht, ob ich spielen darf, deutet er auf die Kiste und antwortet mir: ›Das geht leider nicht! Die Leute haben ihr Geld eingeworfen, also haben sie auch das Recht, die gewünschte Musik zu hören. Wenn ich die Box abschalte, verärgere ich mir nur die Gäste.‹ – So, nun weißt du, warum ich diese Dinger nicht mag. Bestellt euch von mir aus auf meine Rechnung ein Bier, aber erwartet von mir ja nicht, daß ich meinen ärgsten Feind auch noch mit Geld füttere!«
Ein Lachen vom Nebentisch veranlaßt Victor, dorthin zu blicken. Ein mittelgroßer, etwas hager und asketisch wirkender Mann prostete ihm mit einem halbgefüllten Glas undefinierbaren Inhalts zu. »Dem kann ich nur beipflichten! Diese verdammten Scheißdinger sind der Ruin eines jeden ehrlichen Straßenmusikanten!« Sein Akzent war ziemlich hart. Victor schätzte ihn auf ungefähr vierzig Jahre. Das schmale, etwas arabisch aussehende Gesicht wirkte vertraueneinflößend. »Dich habe ich hier noch nie gesehen. Bist wohl'n Neuankömmling? Setz' dich zu mir – zu zweit trinkt sich's besser!«
Der Typ war Victor auf den ersten Blick sympathisch, also nahm er seine Siebensachen und wechselt den Tisch. Jetzt konnte er auch den Gitarrenkoffer neben dem Stuhl seines Gesprächspartners sehen, der vorher seiner Sicht entzogen war. »Du machst den Eindruck, als wenn du dich hier gut auskennen würdest«, sagte er zur Begrüßung.
»Ein wenig. Seit zehn Jahren verbringe ich hier den Sommer.«
»Deinem Akzent nach kommst du aus Spanien – wenn mich nicht alles täuscht.«
»Aus Andalusien. Genauer gesagt: Almeria.« Er stand auf, verbeugte sich vor Victor mit spanischer Grandezza, schwenkte seinen Arm auf übertrieben theatralische Weise und rief: »Sie haben die Ehre, die Bekanntschaft von Alonso Felipe Torres, dem einzig wahren Flamenco-Interpreten der iberischen Halbinsel, zu machen!« Dabei schaute in die Runde, genoß sichtbar die erstaunt-amüsierten Blicke der anderen Gäste und setzte sich dann wieder. »Aber dir erlaube ich, mich Felipe zu nennen«, sagte er gönnerhaft zu Victor.
»Warum nicht Alonso?«
»Weil ich den Namen hasse! Dafür könnte ich meinen Vater noch nachträglich wie einen Truthahn würgen, daß er mir diesen bescheuerten Vornamen gegeben hat! Oder findest du nicht, daß man sich, genauso wie auch die Religion, seinen Namen selbst sollte auswählen können, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat? Na ja... Ich gehöre wohl zu den ganz wenigen Spaniern, die ihren Vornamen nicht mit Stolz tragen...«
Ein Polizist betrat die Bar, kippte den Cognac, der ihm vom Tresenmann gereicht wurde und setzte dann mit einem lässigen Abschiedsgruß seinen Rundgang fort. Dieses kurze Intermezzo weckte in Victor die Erinnerung an den Vorfall mit dem Penner und er schilderte Felipe sein Erlebnis. Anschließend bemerkte er: »Die sind anscheinend hier genauso scharfe Hunde wie in Paris, wo sie die Musikanten mit Knüppeln zur Revierwache prügeln und ihre Instrumente beschlagnahmen, was ihnen sichtlich Spaß macht. Wahrscheinlich habt ihr mit denen auch hier euere Probleme.«
»Der Schein trügt«, entgegnete Felipe. »Die Bullen hier sind in der Regel ausgesucht höflich und hilfsbereit – auch Straßenmusikern gegenüber, weil die in St. Tropez nicht nur geduldet, sondern im Gegenteil, sehr geschätzt sind. Dieses verrückte Fischerdorf lebt von dem Trubel, der allerorts veranstaltet wird und ohne Musik ist der ganze Rummel nur halb soviel wert. Straßenmusik gehört in der ganzen Region zur Tradition. Aber man darf die Bullen deshalb keinesfalls unterschätzen – sie wissen genau, was hier so läuft. Und wenn jemand gar den Fehler macht, sie zu provozieren oder sich mit Rauschgift erwischen zu lassen, dann ist er ziemlich schnell weg vom Fenster. Da reagieren die Brüder genauso, wie die berüchtigte ›Guardia Civil‹ in Spanien.«
Читать дальше