»Du bist schlimmer als alle Juden, Chinesen und Armenier zusammen!« Imre blickte mit schmerzlich verdrehten Augen zum Himmel und ballte die Fäuste. »Also abgemacht! Ich gebe sogar zwei Runden aus! Denn das muß ich erst mal hinunterspülen, daß mich einer beim Handeln so schlecht hat aussehen lassen!«
»Nimmst du's mir übel?« fragte Victor belustigt.
»I wo!« Imre lachte kurz auf. »Du kennst anscheinend die Magyaren noch nicht. Wir lieben den Handel genauso wie alle anderen Osteuropäer. Und wenn einer dabei den kürzeren zieht, nimmt er's dem anderen nicht krumm. Schließlich hat er ja die Möglichkeit, nein zu sagen...«
Damit hatte Victor eine Freundschaft besiegelt, die, wie sich später noch herausstellen sollte, von großer Dauer war.
DRITTES KAPITEL
Dröhnendes Gelächter, begleitet von frenetischem Applaus, erfüllte die Bar Tabac, während die vier Travestie-Darsteller eine Show im Innern der Kneipe abzogen. Eigentlich wollten sie in ihrer Pause bloß Zigaretten kaufen, wurden aber durch deftige Kommentare der Gäste dazu ermuntert, eine Sondereinlage zu geben. Sie waren wie Variété-Mädchen gekleidet, mit Pfauenfedern am Hintern, was sie noch grotesker wirken ließ. Durch die Tischreihen scharwenzelnd, machten sie die männlichen Gäste auf provozierende Weise an. Einer von ihnen, zurechtgestylt wie Marilyn Monroe, tätschelte einem älteren Mann den Kopf und flötete:
»Na, mein Süßer, ich habe das starke Gefühl, daß du allmählich in das Metallzeitalter kommst...«
»Metallzeitalter...?« rätselte das Publikum. »Wieso...? Warum...? Noch nie gehört...!«
»Silber in den Haaren...« ließ sich Marilyn die Pointe auf der Zunge zergehen, »Gold auf den Zähnen... Und Blei in den Beinen...!«
Das Publikum bog sich vor Lachen und übertrieben mit ihren Hintern wackelnd, verließen die Spaßvögel die Bar Tabac.
Joan und Victor saßen am Tisch, gerade dabei, Geld zu zählen, was aber momentan nicht möglich war, weil sie von Lachkrämpfen geschüttelt wurden.
»Die machen immer so einen Scheiß...!« stöhnte Joan und hielt sich den Bauch.
»Du kennst sie?« fragte Victor
»Ja. Sie treten in einem Travestie-Night-Club auf. Gleich ein paar Ecken weiter. Manchmal kommen sie herein, weil ihnen die Luft im Club zu ›schwül‹ ist, wie sie sagen. Aber ich glaube eher, daß sie hergeschickt werden, um ein bißchen Reklame zu machen. Ist ja auch egal. Auf alle Fälle gibt es immer einen Mordsspaß, wenn sie da sind.«
»Sie waren wirklich Spitze! Zum Schießen!«
In diesem Moment betrat Felipe die Bar und setzte sich zu den beiden.
»Ich habe schon von weitem mitbekommen, was los war«, grinste er. »Das Gelächter konnte man fast bis zum Marktplatz rauf hören.«
»Die bringen aber auch Leben in die Bude! Ich bin sonst kein großer Freund von derartigen Shows, doch die haben mich voll überzeugt.« Victor war begeistert, wie schon lange nicht mehr. »Was ich dich fragen wollte... Kannst du mir ein paar Flamenco-Läufe beibringen? Ich will dir beileibe keine Konkurrenz machen, aber ich habe auch einige spanische Lieder, wie zum Beispiel ›Granada‹, im Repertoire. Da würde natürlich eine spanisch klingende Introduktion das Ganze enorm aufwerten.«
»Dann mal los! Aber dafür zeigst du mir auch, wie man Blues spielt...«
Während Victor und Felipe zusammen übten, wurden sie von einem geschniegelten, aber nicht unsympathisch wirkenden, südländischen Typen mit unergründlichen Augen, aufmerksam beobachtet...
* * *
Diesen Freitagabend würden Joan und Victor so schnell nicht vergessen. Die Stadt war erfüllt von brodelndem Leben, der Tag versprach, ein gutes Geschäft zu werden. Joan war mit Victor übereingekommen, für dreißig Prozent der Einnahmen sammeln zu gehen. Diese Arbeitsteilung machte Victor beweglicher, denn er konnte dadurch wesentlich mehr Restaurants und Plätze bespielen und es kam mehr Geld herein – mehr als die dreißig Prozent ausmachten. Das war auch darauf zurückzuführen, daß Joan ein umwerfendes Talent hatte, Charme und Sex gezielt beim Sammeln einzusetzen, was reichlich Früchte trug. Und so bildeten sie eine Symbiose, die tadellos funktionierte. Joan hatte zum ersten Mal ihn ihrem Leben eine Aufgabe, die sie richtig erfüllte und ihr Selbstvertrauen wuchs von Tag zu Tag.
Aber an jenem Abend sollte alles anders kommen. Auf dem Weg zum Hafen hörten sie schon von weitem Akkordeonklänge, die sie anfangs allerdings noch nicht beachteten. Viele Musikanten kamen nach St. Tropez. Manche blieben für längere Zeit, andere wiederum zogen nach kurzem Aufenthalt weiter. Neue Gesichter und auch Klänge gehörten zur Tagesordnung. Und so schritten sie die Hafenstraße ab, einen freien Platz suchend, an dem sie ihre allabendliche Tour beginnen konnten. Es war keiner zu finden. Die ganze Straße entlang saßen Zigeunerkinder auf Campingstühlen und spielten Akkordeon. Der Abstand zwischen ihnen betrug nicht mehr als dreißig Meter, so daß sich die Musik überschnitt, was ihrer Konzentration anscheinend keinen Abbruch tat. Ihr klägliches Repertoire bestand aus nur vier Liedern: »Trink, Brüderlein, Trink« – »Kalinka« – »Viva España« und »Schneewalzer«. Die Interpretation – falls man diese traurige Darbietung überhaupt so nennen konnte – war schlichtweg eine Katastrophe. Und wer seine Ohren etwas anstrengte, hörte ohne weiteres den identischen Stil heraus, der auf eine gemeinsame Schule schließen ließ. Aber was das Faß zum Überlaufen brachte, war ihre übertrieben mitleiderregende Art, sich zu präsentieren. Wie sie so dasaßen, mit ihren großen, rehbraunen Augen – verschüchtert dreinguckend, der Körper eine rachitische Haltung einnehmend – machten sie den Leuten glauben, alles Leid der Welt durchgemacht zu haben. Und der Obolus, den sie einheimsten, war nicht bloß auf ihre miserable Musikdarbietung zurückzuführen. Diese abgefeimt widerliche Zurschaustellung scheinbar menschlichen Elends – die Kinder machten bei genauerem Hinsehen einen durchaus wohlgenährten und gesunden Eindruck – diente nur dem einzigen Zweck, nämlich den gutgläubigen Menschen das Geld ohne nennenswerte Gegenleistung aus der Tasche zu ziehen. Victor verfluchte in Gedanken die Eltern für diese Art von Dressur und wandte sich angeekelt zu Joan:
»Das ist wohl das hinterfotzigste und abgebrühteste Theater, das ich je erlebt habe! Laß' uns bloß zu den anderen Plätzen gehen! Das ist ja eine Katastrophe! Die sind mit ihren Akkordeons so laut, daß sie den ganzen Hafen beherrschen – man hat keine Chance gegen sie!«
Und so begaben sie sich in die malerische Altstadt von St. Tropez, um die übrigen Restaurants abzuklappern. Doch sie erlebten eine böse Überraschung: Überall, wo sie hinkamen, waren Zigeunerkinder am Werk. Hatten sich festgebissen und langweilten das Publikum mit ihren vier Liedern. Da in St. Tropez das ungeschriebene Gesetz herrschte, zu warten, bis der Auftritt eines Musikanten beendet war, konnten sie natürlich nichts dagegen unternehmen. Es wäre auch vergebliche Liebesmüh' gewesen, denn das Musikgewirr, welches die Kinder mit ihren Ziehharmonikas verbreiteten, würde sich auf jeden anderen Musikanten störend auswirken. Er wäre unfähig, seinen Vortrag in gewohnter Manier darzubieten.
Niedergeschlagen lenkten sie ihre Schritte in Richtung Bar Tabac. Auf dem Weg dorthin begegneten sie einer Gruppe von drei Zigeunermädchen, die anscheinend als mobiles Einsatzkommando agierten. Sie zogen, dieselben Lieder singend und spielend durch die Straßen, wobei die Jüngste, ein niedlich anzusehendes Mädchen von etwa vier Jahren, tamburinschlagend tanzte und anschließend bei den Umstehenden mit unwiderstehlich kindlicher Anmut Geld einsammelte.
»Guck dir mal ihre Akkordeons an! Bei manchen fehlen sogar mehrere Tasten!« Joan war entrüstet. »Und mit diesem Müll versuchen sie, die Leute zu verarschen! Abzocke pur! Einfach widerlich! Das sind die besten Schauspieler, die mir jemals untergekommen sind!«
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