„Ich hatte tatsächlich gehofft, dass wir etwas hören. Tut mir leid, dass du umsonst hierhergekommen bist.“
„Keine Sorge, es tat gut über alles zu reden. Mir geht es danach immer gleich viel besser.“
„Ja, ich fand den Abend auch sehr schön. Aber jetzt sollten wir schlafen, wir müssen morgen früh raus.“
„Ich suche mir einen Millionär, dann kann ich immer ausschlafen.“ Carina kicherte leise.
„Ehrlich, du bist nicht zu toppen.“
Pia erwachte kurz vor drei und knipste verschlafen das Licht an. Ein heiserer Schrei folgte, als sie die Freundin aufrecht sitzend im Bett vorfand.
„Himmel, hast du mich erschreckt! Seit wann sitzt du denn hier? Kannst du nicht schlafen?“
„Doch, ich könnte schlafen. Aber ich müsste dringend wohin und habe mich dummerweise nicht getraut, weil mir diese Mordgeschichte wieder eingefallen ist.“
„Aber gehört hast du nichts?“
„Nein, nicht dass ich wüsste …“
„Gut, dann brechen wir gemeinsam auf, ich muss nämlich auch.“
Kichernd wie alberne Teenager schlüpften sie zuerst in das Badezimmer und anschließend wieder zurück unter die warme Bettdecke.
„Pia, ich würde hier allein wahnsinnig werden. Wie oft habe ich dich um die Ruhe und die Abgeschiedenheit beneidet. Besonders wenn ich in meiner Mietwohnung saß und der schwerhörige Opa von nebenan die Volksmusik wieder auf volle Lautstärke gedreht hat. Aber das ist jetzt meine erste Nacht bei dir und ohne dich würde ich stiften gehen. Alle Zimmer in der oberen Etage sind unbewohnt und gleich gegenüber vom Wohnhaus befinden sich die finsteren Ställe, in denen nicht einmal das Licht funktioniert. Das ist ein schauriges Gefühl.“
Carina schüttelte sich. „Sieh dir meine Arme an, Gänsehaut pur. Leerstehende Gebäude besitzen meist eine unheimliche Aura und dieser Umstand hat sicher nichts mit Geistern zu tun. Außerdem ist die Urangst vor der Dunkelheit tief in unseren Genen verankert.“
„Du hast ja recht, der Hof ist einfach zu groß für mich allein“, gab Pia kleinmütig zu. Plötzlich wurde sie hellhörig. „Pst! Ich glaube, es geht wieder los.“
Carina nickte. „Ja, ich kann die Schritte deutlich hören.“
Was die Freundin für ein spannendes Abenteuer hielt, brachte Pia fast um den Verstand. Carina war ein Vernunftmensch, und mit Sicherheit war das auch gut so. Sie konnte Pia am ehesten wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
Die schlurfenden Schritte entfernten sich von der Schlafzimmertür und kurz darauf knarrten die Treppenstufen. Pia saß mit einem gequälten Gesichtsausdruck im Bett und zitterte.
„Worauf wartest du? Lass uns sofort nachsehen, wer auf dem Flur sein Unwesen treibt!“
„Du willst jetzt da raus?“
„Natürlich. Schließlich müssen wir den Eindringling in seine Schranken verweisen.“
Carina zerrte Pia aus dem Bett und öffnete vorsichtig die Tür. Die oberen Stufen knarrten erneut und Carina drückte auf den Lichtschalter. Die Halogenleuchte flammte auf und gab den Blick auf die Treppe frei. Nichts.
„Das kann nicht sein? Eben war noch jemand auf der Treppe, ich bin doch nicht verrückt?“
„Was bin ich froh, dass du es auch gehört hast.“ Pia blies geräuschvoll die Luft aus ihren Lungen. „Und ich habe mich schon für einen notorischen Angsthasen gehalten, der Dinge sieht, die gar nicht vorhanden sind.“
„Keine Ahnung, was hier vor sich geht.“ Carina schob Pia zurück ins Schlafzimmer und verschloss die Tür. „Vielleicht solltest du einen Architekten beauftragen oder wer immer dafür zuständig ist. Wahrscheinlich sackt das alte Gemäuer ab und verursacht deshalb diese merkwürdigen Geräusche. Könnte doch sein?“
„Stimmt. An diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht. Trotzdem klang es irgendwie gruselig.“
„Wo du recht hast, hast du recht. Aber jetzt sollten wir endlich schlafen.“
Pias Schlafmangel machte sich besonders während der Arbeitszeit bemerkbar und sie trank einen starken Kaffee nach dem anderen. Früher hatte ihr die Arbeit immer Spaß gemacht, doch in letzter Zeit sehnte sie den Feierabend regelrecht herbei.
War der Kauf des Hofes vielleicht doch ein großer Fehler gewesen? Sollte sie besser klein beigeben und ihn wieder verkaufen? Wenn sie jetzt schon auf dem Zahnfleisch kroch, wie sollte sie dann die zwei Jahre durchhalten, bis Felix sein Studium beendet hatte?
Immerhin fing die Baufirma heut mit dem Aushub der Kläranlage an. Der Lärm und die fremden Leute sollten die Geister wohl vertreiben.
Der Bagger wühlte sich durch die feuchte Erde und lud seine klumpige Fracht auf den bereitstehenden LKW. Bernd fuchtelte mit seinen Armen herum und schrie dem Fahrer zu: „Go!“
Holpernd fuhr der LKW vom Hof, während sich der Bagger weiter durch das Erdreich fraß. Bernd stand etwas abseits und fror erbärmlich. Es roch nach Schnee und insgeheim wünschte er sich, dass der Boden endlich gefror. Dann war nämlich Sense mit den Außenarbeiten. So sehr er seinen Job im Freien auch liebte, spätestens während der kalten Jahreszeit verfluchte er ihn.
Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die Gebäude. Welcher Depp hatte sich dieses vom Verfall gezeichnete Gehöft ans Bein gebunden? War das nicht die Kleine, deren Vater den Baustoffhandel besaß? Konnten sich diese Leute keinen Gutachter leisten? Selbst ein Blinder mit dem Krückstock musste doch erkennen, dass man dieses Gemäuer besser abreißen ließ. Aber egal, das war ja nicht sein Bier.
Er beobachtete gerade seinen Kollegen im Führerhaus, als ihm etwas vor die Füße kullerte. Der Gegenstand ähnelte einer löchrigen Tonschale und er bückte sich neugierig. Sekunden später brüllte er lauthals los: „Stopp, Uwe! Halte sofort an!“
„He, was soll das denn, verdammt? Wir haben gleich Feierabend!“
„Mensch, guck doch mal.“ Bernd zerrte den protestierenden Uwe aus dem Bagger. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich das für einen Kinderschädel halten.“
„Ach, du spinnst!“
„Nein, ehrlich! Schau doch mal, der Unterkiefer fehlt, Zähnchen sind auch keine da, aber es wirkt irgendwie menschlich.“
„Keine Ahnung, damit kenne ich mich nicht aus. Lass uns weitermachen, Zeit ist Geld.“
„Ne du, ich rufe besser die Polizei. Lieber einen Anschiss vom Chef als einen von den Bullen.“
„Gut, wenn das dein letztes Wort ist … dann schließe ich die Kabine ab und mache mich vom Acker. Ich warte doch nicht, bis die da sind. Das kann Stunden dauern.“ Uwe tippte sich an die Stirn und stapfte zu seinem PKW.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Wie soll ich denn nach Hause kommen?“
Schwungvoll riss Uwe die Autotür auf und streckte Bernd seinen Mittelfinger entgegen. Dann startete er den Motor und brauste davon. Bernd glotzte ihm mit offenem Mund hinterher. „Der hat doch echt einen Knall“, murmelte er entrüstet und betrachtete das verdreckte halbrunde Etwas in seiner Hand.
Er würde seinen Hintern verwetten, wenn das kein Kinderschädel ist. Er zückte sein Smartphone und wählte den Notruf.
Als Pia von der Arbeit zurückgefahren war, traf sie der Schlag. Zwei Polizeiautos parkten im Hof und ein weiterer Transporter fuhr vor. Die Männer und Frauen streiften sich Schutzanzüge, Stiefel, Handschuhe und Häubchen über, bevor sie sich einen Spaten schnappten und in Richtung Sickergrube marschierten. Das Absperrband flatterte verloren im Wind und überall war Folie ausgebreitet. Die Beamten sortierten sorgsam kleine braune Stöckchen, zumindest sah es danach aus.
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