„Also gibt es keine Aufzeichnung darüber oder Ähnliches?“
„Nein, Papiere werden sie vergeblich suchen, es gab keinen Arzt mehr im Ort. Der war an der Front, genauso wie jeder andere brauchbare Mann. Wer hätte denn eine genaue Todesursache feststellen sollen? Vielleicht ist auch Selbstmord nicht auszuschließen? Viele treue Anhänger der damaligen Zeit haben den Freitod gewählt. Nicht nur Hitler hat seinem Leben auf diese Weise ein Ende bereitet.“
„Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll“, stammelte Pia verwirrt.
„Manchmal geben die Mauern ihre Vergangenheit preis. Passen Sie gut auf sich auf, so allein da draußen. Vielleicht sollten Sie den Hof besser verkaufen.“
„Aber ich bin doch gerade erst eingezogen!“
„Die Leute erzählen sich immer wieder, dass es dort draußen spukt. Sie wollen Lichter am Fenster gesehen oder Kinderweinen gehört haben. Nicht umsonst sind die Gebäude so verfallen. Keiner aus dem Dorf wollte dieses Grundstück kaufen.“
„Seltsam. Jedenfalls werde ich wachsam sein und aufpassen. Haben Sie vielen Dank!“
„Nichts zu danken, junges Fräulein, nichts zu danken.“
Die ältere Dame stützte sich auf ihren Stock und humpelte davon. Pia stand wie vom Donner gerührt neben ihrem Wagen. Waren es doch keine jammernden Katzen gewesen, sondern echtes Kinderweinen? Oh nein, wie ihr vor der kommenden Nacht graute. Hastig fischte sie ihr Smartphone aus der Hosentasche und tippte Carinas Nummer ein.
„Entschuldige Carina, ich bin es noch einmal. Du, ich brauche deine Hilfe und sag bitte nicht Nein. Würdest du deinen angekündigten Besuch auf den heutigen Tag vorverlegen? Wie, du hast schon etwas vor? Bitte Carina, lass mich nicht hängen, ich kann unmöglich noch eine weitere Nacht allein in diesem Haus verbringen. Also darf ich auf dich zählen? Danke, du bist ein Schatz!“
Erleichterung machte sich breit. Nicht auszudenken, wenn die Freundin abgesagt hätte. Nach diesem aufwühlenden Gespräch konnte sie unmöglich allein bleiben. Gut, das Elternhaus wäre noch eine Option gewesen. Aber welche Erklärung hätte sie ihrem Vater auftischen sollen? Er war sowieso gegen den Kauf des Gehöftes gewesen und würde darauf drängen, dass sie das Anwesen letztlich doch verkaufte.
Es dämmerte bereits, als sie in der Hofeinfahrt hielt. Der November war nicht gerade ihr Lieblingsmonat. Nässe, Kälte, Dunkelheit - wie geschaffen für einen Horrorfilm. Finley folgte ihr brav ins Haus und suchte die Wärme. Er war noch so entsetzlich mager und es würde einige Zeit brauchen, bis er sich eine gesunde Fettschicht angefressen hatte.
Sie verstaute gerade ihre Einkäufe, als sie ein Motorengeräusch hörte. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihre Vermutung, Carinas Wagen parkte bereits vor dem Eingang. Erleichtert riss sie die Haustür auf und umarmte die Freundin.
„Was bin ich froh, dass du da bist! Ich fühle mich ziemlich unwohl allein.“
„Pia, wir konnten alle nicht verstehen, warum du unbedingt auf den Hof ziehen wolltest. Gestehst du wenigstens jetzt deinen Fehler ein?“
„Nein. Später wohnt doch Felix bei mir und wir haben viele Tiere, dann gibt es keinen Grund mehr, um sich zu fürchten. Und in puncto Vorwürfen kannst du dich gerne hinten anstellen.“
„Das überhöre ich großzügig. Aber jetzt mal im Ernst, warum soll ich bei dir übernachten?“
„Also“, Pia holte tief Luft. „Immer wenn ich allein bin, höre ich seltsame Geräusche. Manchmal sind es schlurfende Schritte vor meiner Schlafzimmertür oder Kinderweinen außerhalb des Hauses. Immer öfter träume ich wirres Zeug, dass ich schwanger bin und mir jemand mein Kind aus dem Bauch reißen möchte. Wenn Felix neben mir schläft, ist alles in bester Ordnung. Keine Träume, keine Schritte, nichts. Vorhin im Laden hat mich eine alte Frau belauscht und mir brühwarm erzählt, dass hier ein Mord geschehen sein soll.“
„Tatsächlich? Und welche Aufgabe habe ich dabei?“
„Ich möchte einfach wissen, ob ich mir das Ganze nur einbilde. Und nach dem, was mir die ältere Dame erzählt hat, will ich die kommende Nacht auf keinen Fall allein verbringen.“
Carina rieb sich die Hände. „So etwas wollte ich schon immer einmal machen, in einem richtigen Spukhaus übernachten. Weißt du eigentlich, was die Briten für eine Übernachtung in so einem Haus kassieren? Der reinste Wucher.“
„Ein Hoch auf dein Gemüt, dann würde mir der ganze Spuk überhaupt nichts ausmachen. Letzte Nacht habe ich mir vor lauter Angst die Decke über den Kopf gezogen und wie ein Schlosshund geheult.“
„Kann es vielleicht sein, dass du so durcheinander bist, weil dir deine Afra fehlt?“
„Meinst du? Na, wir werden ja sehen, was heute Nacht passiert. Komm mit ins Wohnzimmer, dort können wir in Ruhe weiterreden.“ Pia zog ihre Freundin am Ärmel hinter sich her.
„Na Hallo, wer bist du denn? Dich kenne ich ja noch gar nicht.“ Carina hockte sich zu Finley und kraulte ihn hinter den Ohren. „Wo hast du den Süßen denn aufgegabelt?“
Pia hob beschwichtigend die Hände. „Ich bekenne mich schuldig, den Rüden aus einer Scheune gestohlen zu haben. Er war halb verhungert, da konnte ich ihn nicht zurücklassen.“
„Wirst du ihn behalten?“
„Ich denke schon. Er versteht sich mit Biene und fühlt sich hier ausgesprochen wohl.“
„Tja Finley, sieht so aus, als hättest du einen Sechser im Lotto gezogen. Bei Pia wirst du nämlich richtig verwöhnt.“
„Apropos verwöhnen, möchtest du eine Pizza zum Abendessen? Dann schiebe zwei davon in den Backofen.“
„Du weißt doch, ich esse alles, was auf den Tisch kommt.“
Carina lachte und kniff in ein kleines Speckröllchen an ihrer Hüfte. Seit dem Teenageralter kämpfte sie vergebens gegen ihr leichtes Übergewicht. Pia fand, dass Carina sehr viel Selbstvertrauen ausstrahlte und sich trotz ihrer Pfunde durchaus sehen lassen konnte.
Die Freundin war klug, witzig, hilfsbereit und die freche Kurzhaarfrisur unterstrich ihre aufgeschlossene Persönlichkeit. Und was Männer anbetraf, so war sie etwas sprunghaft und probierte gern Neues aus. Carina als Rubensfrau stand ziemlich hoch im Kurs, trotz der Magermodels, die ständig die Medien überschwemmten. Nur ihren persönlichen Mr. Right, den hatte sie bis jetzt noch nicht gefunden.
Am späten Abend lagen die Freundinnen im Doppelbett und quatschten über Gott und die Welt.
„Danke, dass du vorbeigekommen bist, ich weiß das sehr zu schätzen.“
„Das will ich doch hoffen, schließlich habe ich auch noch ein Liebesleben.“
„So? Mit wem denn? Habe ich da etwas verpasst?“ Pia klang belustigt und Carina zog einen Flunsch.
„Es könnte doch sein, dass ich wieder in festen Händen bin.“
„Stimmt, das könnte durchaus sein.“ Pia lachte.
„Ja ja, mach dich ruhig über mein Liebesleben lustig.“
„Ach Carina, du erzählst mir immer brühwarm von jedem Kuss und plötzlich verschweigst du mir den Mann des Jahrhunderts?“
„Na und? Du hast leicht reden mit deinem Traumprinzen Felix. Schau ihn dir doch an, blond, blauäugig - natürlich im positiven Sinne - groß und ziemlich gut gebaut. Von seiner treuen Art ganz zu schweigen.“ Carina seufzte theatralisch. „Du bist wirklich zu beneiden, weißt du das? Ich darf immer nur das Pferd des Prinzen füttern oder Heu holen.“
„Jetzt aber mal halblang. Die Pferde, die du alle gefüttert hast, kann doch keiner mehr zählen.“
Carina stimmte in das Lachen mit ein. Wenig später siegte die Müdigkeit und Pia löschte das Licht.
„Wenn ich schon einmal ein Gespenst sehen will, taucht keines auf“, murmelte Carina im Halbschlaf.
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